Insbesondere im Zusammenhang mit den als „Industrie 4.0“ bezeichneten disruptiven Veränderungen, die durch die Digitalisierung vor allem in Industrie und produzierendem Gewerbe hervorgerufen werden, wird häufig von der 4. industriellen Revolution gesprochen. Obwohl dieser Begriff die Stärke der zu erwartenden Veränderungen unterstreichen soll, wird er diesen bei genauerer Betrachtung aber kaum gerecht. Zutreffender wäre es vielmehr, von der 4. und 5. Industriellen Revolution gleichzeitig zu sprechen, um den sich abzeichnenden Veränderungen gerecht zu werden.
Von Michael Müller
Ein Blick in die Geschichte
Die 1. industrielle Revolution, die durch eine wesentliche Steigerung des Wirkungsgrades von Dampfmaschinen ausgelöst wurde, ermöglichte nicht nur die Substitution menschlicher, tierischer und natürlicher (wie z.B. Wind und Wasser) Arbeitskraft durch maschinelle Kraft, sondern auch die Nutzung von Leistungsvermögen, das weit über demjenigen von Mensch, Tier oder Natur lag und völlig neue Anwendungsmöglichkeiten eröffnete, wie z.B. den Einsatz von Lokomotiven oder Dampfschiffen.
In der industriellen Anwendung bedeutete dies, dass eine zentral im Fabrikgebäude stehende Dampfmaschine die Produktionsmaschinen über Transmissionswellen und -riemen antrieb. Da die Übertragungsverluste mit der Entfernung von der Dampfmaschine deutlich zunahmen, mussten Maschinen mit hohem Kraftbedarf nahe der Dampfmaschine platziert werden, solche mit geringerem Kraftbedarf dagegen an der Peripherie. Dem innerbetrieblichen Transport zwischen den einzelnen Produktionsschritten kam damit eine zentrale Bedeutung zu.
Die 2. industrielle Revolution wurde durch die Elektrifizierung ausgelöst. Dadurch bekam jede Maschine ihr individuelles Antriebsaggregat. Das komplizierte System der Transmissionswellen und -riemen wurde obsolet. Hierdurch war es möglich, Maschinen entsprechend der Produktionsschritte anzuordnen und nicht mehr entsprechend des Energiebedarfs, was einen erheblichen Produktivitätsfortschritt und damit eine deutlich kostengünstigere Produktion ermöglichte. Trotzdem dauerte die Umstellung relativ lange, da die alten, am Dampfmaschinenprinzip ausgerichteten Produktionsgebäude eine veränderte Maschinenanordnung oftmals nicht zuließen.
Während auch nach der 1. und 2. industriellen Revolution noch immer zahlreiche Tätigkeiten von Arbeitern ausgeführt werden mussten, brachte die 3. industrielle Revolution die Automatisierung und damit nicht zuletzt auch die Robotik in die Fabrik. Der Einsatz menschlicher Arbeitskraft ging dadurch mehr und mehr zurück und konzentrierte sich fortan verstärkt auf Steuerungs- und Überwachungsfunktionen. Die Produktivität konnte dadurch erneut deutlich gesteigert werden.
Digitalisierung – zwei industrielle Revolutionen auf einmal
Waren die vorhergehenden industriellen Revolutionen durch Investitionen in neue Maschinen bei den Produzenten von Industriegütern bzw. durch Konstruktionsänderungen bei den Maschinenherstellern verhältnismäßig einfach zu bewältigen, liegen die Herausforderungen der 4. Industriellen Revolution bestehend aus Digitalisierung und „Industrie 4.0“ auf mindestens zwei verschiedenen Ebenen gleichzeitig.
Am ehesten vergleichbar mit den industriellen Revolutionen der letzten etwa 175 Jahre ist noch die Vernetzung der Maschinen und maschinellen Anlagen des als „Industrie 4.0“ bekannten Umbruchs. Damals wie heute betrifft dieser in erster Linie die Produktion einschließlich der Logistik und erfordert von den Unternehmen vor allem ein hohes Maß an Investitionen sowie eine veränderte Wissensbasis der Mitarbeiter. Während der ersten drei industriellen Revolutionen blieben die Umbrüche jedoch auf Produktion und Logistik begrenzt; die Geschäftsmodelle blieben unverändert, was trotz aller Veränderungen ein gewisses Maß an (Planungs-)Sicherheit gab.
Die zweite Stufe der Veränderungen mit vermutlich sogar noch gravierenderen Umbrüchen findet auf der Ebene der Geschäftsmodelle statt. Vernetzung, Digitalisierung und Datenwirtschaft stellt zahlreiche alte, oftmals seit über 100 Jahren erfolgreiche Geschäftsmodelle in Frage. Damit sind die beiden Kernbereiche unternehmerischer Tätigkeit, nämlich die Leistungserstellung und die Umsatzerzielung zum Gegenstand bislang kaum absehbarer disruptiver Veränderungen geworden.
Unter dem Druck, die Anforderungen wichtiger Abnehmer, die lückenlose Datenketten fordern, erfüllen zu müssen oder als Teil einer Lieferkette zwingende Vorgaben zu erreichen, konzentrieren sich die Veränderungsmaßnahmen in den meisten Unternehmen auf die Digitalisierung der Produktion. Dabei wird die Entwicklung und Markteinführung datenbasierter Geschäftsmodelle nicht selten vernachlässigt. Tatsächlich haben viele Unternehmen Geschäftsmodelle mit Dateneinflüssen oder auch teil-datenbasierte Geschäftsmodelle implementiert, worunter z.B. Onlineshops oder die Nutzung externer Plattformen mitsamt der dort verfügbaren KI-Unterstützung fallen. Von datenbestimmten Geschäftsmodellen oder gar voll-datenbasierten Geschäftsmodellen sind solche Ansätze aber noch weit entfernt. Ob dies absichtlich erfolgt oder ob mangelnde Ressourcen, fehlender strategischer Weitblick, unzureichende Kenntnisse über Mechanismen und Monetarisierungsoptionen datenbasierter Geschäftsmodelle oder schlicht der Irrglaube, mit den bestehenden Ansätzen bereits über datenbasierte Geschäftsmodelle zu verfügen, hierfür verantwortlich sind, sei dahingestellt. Tatsache ist aber, dass es nur wenige Unternehmen gibt, die innerhalb ihrer Ertragsgenerierung auch auf voll-datenbasierte Geschäftsmodelle zurückgreifen.
Gefährliche Kumulation externer Einflüsse
Das Erfordernis zur Umstellung der Ertragserzielung hin zu datenbasierten Geschäftsmodellen kommt zudem für viele Unternehmen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Schwächung von Umsatz, Ertrag und Liquidität durch die Covid-19-Krise, die technologische Umstellung ganzer Branchen (wie z.B. der Automobilindustrie auf neue Antriebstechnologien, Umweltschutzvorgaben etc.) und die bereits erwähnten Digitalisierungsanforderungen im Rahmen der sogenannten „Industrie 4.0“ führen ohnehin bereits zu außerordentlichen Belastungen vieler Unternehmen. Jede dieser Herausforderungen birgt für sich allein gesehen schon in sich das potenzielle Risiko der Existenzgefährdung.
Dass sich diese Gefahren gerade jetzt kumulieren und die Managementkapazität in besonderer Weise belasten, verschärft vielerorts sicher die Situation. Eine zögernde Haltung gegenüber einer neuen „Groß-Baustelle“ ist daher einerseits verständlich. Andererseits besteht aber auch gerade hinsichtlich datenbasierter Geschäftsmodelle in vielen Unternehmen dringender Handlungsbedarf. Die Märkte der Zukunft werden bereits heute aufgeteilt. Wer nicht rechtzeitig in dieses Rennen einsteigt verliert schnell an Boden und ob ein solcher Rückstand später noch aufzuholen ist, bleibt fraglich. Sicher erscheint dagegen, dass – wenn überhaupt – ein entsprechender Rückstand dann nur noch mit deutlich höherem Aufwand (und Risiko) aufgeholt werden kann. Den datenbasierten Geschäftsmodellen ist daher eine zumindest ebenso hohe Priorität einzuräumen, wie den anderen genannten Herausforderungen.
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Michael Müller | Autor
Michael Müller ist Geschäftsführer der Unternehmensberatung SMS Strategic Management Solutions. Er ist auf die Beratung bei ausgewählten Problemen der Strategischen Unternehmensführung (Wertsteigerungs-Management, M&A-Transaktionen, Digitale Geschäftsmodelle) sowie auf die Corporate Finance-Beratung (Equity-Markets) spezialisiert.