In den vergangenen Wochen haben wir erlebt, wie schnell in mittelständischen Unternehmen Prozesse und Geschäftsmodelle digitalisiert werden, wenn hierdurch das unternehmerische Überleben gesichert werden kann: Der stationäre Handel bietet vermehrt Produkte und Dienstleistungen via Internet an. Geschäftsreisen werden durch Videokonferenzen ersetzt. Mitarbeiter können vom Homeoffice aus mit den unternehmerischen Daten arbeiten.
Von Prof. Dr. Friederike Welter
Insgesamt ist davon auszugehen, dass das Wirtschaften während der Coronavirus-Pandemie einen deutlichen Digitalisierungsschub insbesondere bei den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) ausgelöst hat. Zugleich haben auch viele Beschäftigte erkannt, dass die digitale Transformation nicht ihren Arbeitsplatz bedroht, sondern diesen sichert.
Die Herausforderung ist erkannt
Bislang erfolgte in den KMU die digitale Transformation eher graduell und weitestgehend nach Bedarf: 80 Prozent der KMU verwandten digitale Technologien vorrangig, um unternehmensinterne Prozesse computergestützt zu vereinfachen und so Einsparpotenziale zu realisieren. Die Nutzung von Daten, Datenmodellen und Algorithmen sowie von autonom entscheidenden Systemen ist dagegen noch vergleichsweise selten. Häufig verhindern knappe zeitliche Ressourcen der Geschäftsführung, sich mit den technologischen Potenzialen auseinandersetzen. Mit dem wirtschaftlichen Shutdown hat sich nun jedoch in vielen KMU ein Zeitfenster hierfür geöffnet. Gleichwohl kann aufgrund der finanziellen Situation in vielen Unternehmen die Umsetzung weiterer Digitalisierungsmaßnahmen nur nachgelagert erfolgen.
Ein weiteres Problem ist, dass viele KMU beim Thema Digitalisierung auf den Herdentrieb setzen: So begründen sie häufig in Unternehmensbefragungen ihre Zurückhaltung bei der Digitalisierung damit, dass ihre Kunden und Zulieferer gleichfalls nicht hinreichend digitalisiert seien. Die sogenannten „disruptiven Entwicklungen“ wie Handykameras, Internetverkaufsplattformen oder fernsteuerbare Elektrogeräte haben jedoch gezeigt, dass die Entscheidungsträger in den mittelständischen Unternehmen durchaus unabhängig von ihrem Geschäftsumfeld die digitalen Technologien beobachten müssen, wenn sie nicht ihre Wettbewerbsfähigkeit durch branchenfremde Digitalunternehmen verlieren möchten.
Know-how gezielt aufbauen
Allerdings darf man auch nicht außer Acht lassen, dass die Bewertung der digitalen Möglichkeiten ein Grundverständnis für die Technologie und die Zusammenhänge bei den Entscheidungsträgern voraussetzt. Nur etwa jedes sechste KMU beschäftigt jedoch eigene IKT-Fachkräfte. Dieser Wert entspricht zwar in etwa dem der KMU im EU-Durchschnitt. Er liegt aber deutlich unter den Möglichkeiten von Großunternehmen, die zu 77 Prozent auf derartige Fachkräfte zurückgreifen können. Die Know-how-Lücke kann jedoch auch dadurch verringert werden, wenn sich die KMU noch mehr mit Wissensträgern in Hochschulen, Dienstleistungsunternehmen oder entlang der eigenen Wertschöpfungskette vernetzen.
Um das Risiko digitaler Fehlinvestitionen zu mindern und auch die Wissenslücke zu überwinden, gewinnen zudem in jüngster Zeit Kooperationen mit Startups an Bedeutung, deren Geschäftsmodelle auf digitalen Technologien beruhen. Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit ist jedoch, dass sich die Vertreter beider Seiten auf Augenhöhe begegnen und über die möglicherweise unterschiedlichen Unternehmenskulturen hinwegsehen.
Letztlich ist die digitale Transformation jedoch ein Prozess, der noch sehr viele Weiterentwicklungsmöglichkeiten beinhaltet. Auch wenn beispielsweise aktuell die Potenziale der künstlichen Intelligenz noch nicht für jedes mittelständische Unternehmen relevant sind, gilt es, die Entscheidungsträger dafür zu sensibilisieren, die technologische Entwicklung zu beobachten. Die Coronavirus-Pandemie hat schließlich gezeigt, wie wichtig es für den Unternehmensfortbestand sein kann, zum richtigen Zeitpunkt gezielt strategisch und operativ zu handeln.
Über den Kapitalmarktblog:
Hier schreiben die Kapitalmarktexperten der Quirin Privatbank über die deutsche Wirtschaft und alles, was den heimischen Mittelstand bewegt. Das erfahrene Team der Quirin Privatbank hat die Entwicklungen rund um die Mittelstandsfinanzierung immer im Blick und zeigt auf, welche alternativen Finanzierungsformen für KMU interessant sind.
Prof. Dr. Friederike Welter | Autorin
Prof. Dr. Friederike Welter ist Präsidentin des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) Bonn und Inhaberin des Lehrstuhls für Management von kleinen und mittleren Unternehmen & Entrepreneurship an der Universität Siegen.
Für ihre Forschung ist die Ökonomin mit der Aufnahme in den renommierten Kreis der Wilford L. White Fellows ausgezeichnet worden. In 2017 erhielt sie den Greif Research Impact Award des Lloyd Greif Center for Entrepreneurial Studies der University of Southern California. Prof. Dr. Friederike Welter ist u. a. Mitglied im Mittelstandsbeirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, Vorsitzende des „EXIST“-Sachverständigenbeirats sowie Vorsitzende des Gutachterkreises „Validierung des technologischen und gesellschaftlichen Innovationspotenzials wissenschaftlicher Forschung ‑ VIP+“.