Geprellte Anleger sind sicherlich gestraft genug; aber wie die Geschichte zeigt, lässt die Gier nach 1.000 Prozent Rendite bekanntlich das Schicksal eines möglichen 100 Prozent Verlusts leicht vergessen.
An kuriosen Geschichten hapert es der langen Historie des Kapitalmarkts beileibe nicht: Ob nun Tulpenzwiebeln aus Holland oder Kaffeerahmdeckli in der Schweiz, kaum 20 Jahre ist diese lokal begrenzte und von Schweizern ungern erinnerte Marktanomalie her. Manch Geschichte ist so schräg, dass diese dem Betrachter den Mund nachhaltig offen stehen lässt.
Daher, falls Sie noch nicht persönlich in der neuen Welt angekommen sind, heißen wir Sie herzlich willkommen im Club der Coins und Tokens. Dem Bitcoin, auch vielsagend als Gold des Internets benannt, und seinem kurzweiligen Erfolg folgend, finden Sie gemäß diversen spezialisierten Informationsdiensten zwischenzeitlich mehr als 1.300 Kryptowährungen auf der Welt. Und auch in Deutschland häufen sich die Initial Coin Offerings (ICO), also die Ausgabe digitaler Tokens. Der Begriff ist dem angelsächsischen Begriff für den Börsengang, auch Initial Public Offering (IPO) genannt, entlehnt. Hier können Unternehmen in Abhängigkeit von der Ausgestaltung des Tokens – im Gegensatz zu einem aufsichtsrechtlich vollregulierten Börsengang – digitale Währungen weitgehend ohne zentrale Regulierungsinstanz auf den Markt bringen und sich somit Geld langfristig, zumeist ohne Zins- und Rückzahlungsverpflichtung quasi aus dem Nichts verschaffen. Das Vorgehen hierfür wird zwischenzeitlich zumindest intensiv mit dem örtlichen Regulator vorher abgestimmt, um die Einordnung unter das Regime als Wertpapier zu vermeiden.
Gier frisst Rendite
Nicht ohne Grund sind daher ICOs als neue Art der Unternehmensfinanzierung, bei der Tokens anstatt Anteile ausgegeben werden, und damit den Anlegern auch keine Mitbestimmungsrechte am Unternehmen offerieren, in Mode. Es ist doch auch für die Unternehmen zu verlockend. Genau das ist aber für den Anleger das Problem: Wenn etwas „in“ ist, und Käufer auf Basis eines begrenzten Angebots einfach blind alles erwerben, was nur annähernd damit zu tun haben könnte, dann steigen ohne realen Grund die Preise, bis keiner mehr kauft. Die Gier verdeckt dann zumeist den gesunden Menschenverstand: So ist wohl auch zu erklären, dass Investoren insgesamt rund 100 Millionen US-Dollar – so wurde es zumindest vom Unternehmen selbst kolportiert – in den Erwerb von Tokens des wohl größten ICO Deutschlands, dem von Envion, investierten.
Das Geschäftsmodell klang trotz des zugegebenen Start up-Charakters der Firma aber auch zu verlockend: Envion wollte das Schürfen von Kryptowährungen (Mining), das eine Menge an Rechenleistung und damit einhergehend Strom verbraucht, in Containern ermöglichen, die wiederum in der Nähe von Solar-Kraftwerken aufgestellt werden sollten. Somit sollte Envion in der Lage sein, deren Reststrom unabhängig von den Strommarktpreisen für das Mining günstig zu nutzen. Die Idee blieb aber eine solche, sie wurde bis heute wohl nicht in die Tat umgesetzt. Besagte Tokens zum vormaligen Werte von 1 USD sind heute gerade einmal wenige Cent wert – und Investoren klagen mittlerweile gegen das Unternehmen und deren Management wegen des Vorwurfs des Prospektbetrugs. Dass sich nebenbei und zu allem Überfluss noch die Verantwortlichen untereinander mit Dreck bewerfen wie in bekannten C-Prominentenformaten in Containern, ist nur eine Randnotiz, die aber stimmig ins Bild des Geschäftsmodells passt.
Erinnerungen an „Dotcom-Blase“ werden wach
Sieht man sich die jüngste Entwicklung im ICO-Markt an, fällt einem unwillkürlich die Tulpen-Hausse ein, die als Mutter aller Blasen am Kapitalmarkt gilt: Als ab dem Jahr 1630 die aus der Türkei in die Niederlande importierte Tulpe immer mehr an Liebhabern gewann, stieg der Wert von Tulpenzwiebeln rasant an – bis sich förmlich jeder, vom Edelmann bis zur Dienstmagd, mit deren Handel beschäftigte. Das trieb die Preise enorm in die Höhe – bis sie krachend einbrachen.
Nun kann man den damaligen Tulpenzwiebeln-Investoren zumindest zugutehalten, dass sie zeitgemäß etwas handelten, was es tatsächlich physisch gab. Bei den Investoren der Tokens der Envion und wohl auch der Mehrzahl sogenannter ICOs sieht es aber selbst nach Krypto-Branchenkreisenberichten wohl anders aus. Es handelt sich vielfach weder um durch reale Werte wie Gold oder Immobilien gedeckte Investitionen noch um Finanzierungen für bestehende, kreditwürdige Geschäftsmodelle. Erinnerungen an die jüngste Jahrtausendwende, als alles ein Selbstläufer am Aktienmarkt war, was nur im Entferntesten etwas mit „Online“ und „Internet“ im Geschäftsmodell zu tun hatte, werden unwillkürlich wach. Als die sogenannte „Dotcom-Blase“ platzte, war der Kater kaum noch erträglich.
Was uns das lehrt? Geschichte wiederholt sich, zumeist trägt sie nur ein anderes, zeitgemäßes Gewand. Größe und Skurrilität einer Blase richten sich nach der Verfügbarkeit von Liquidität und dem, was „en vogue“ ist. Börsenpreise basieren wie die Konjunktur lediglich auf dem Vertrauen in die Zukunft. Das gilt ebenso für Tokens und Coins. Es bleibt nur zu wünschen, dass überall, wo Renditen von 100 Prozent und mehr wie auch von den Machern der Firma Envion versprochen wurden, sachlich hinterfragt wird, woher solch eine Performance denn bitteschön kommen soll.
P.S.: Der Autor möchte nur redaktionell darauf hinweisen, dass er grundsätzlich nicht an den Vorteilen und generellem Nutzen einer Blockchain-Technologie zweifelt.
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1 Kommentar
Ich bin sehr gespannt, wie sich dieses ganzes Thema in Zukunft noch entwickeln wird. Da wird sicherlich noch einiges passieren.