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Mittelstand in Deutschland: Die Weichen für die Zukunft müssen jetzt gestellt werden

von Holger Clemens Hinz
Mittelstand in Deutschland: Weichen stellen

In den sorgenfreien Wonnejahren des Aufschwungs hat sich ein erheblicher Reformbedarf für die deutsche Wirtschaft aufgestaut. Nun bestärkt eine neue Studie den Eindruck, den die Konjunktur bisher noch verdecken konnte: Die vielgepriesene Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Mittelständler ist längst in Gefahr. Denn die Konkurrenz schläft nicht. Steuern, Infrastruktur, Rechtssystem – die Rahmenbedingungen für den Mittelstand in Deutschland werden immer widriger. Wer der Bundesrepublik den Rang abläuft und was die Politik jetzt tun muss – eine Analyse. 

Wachstumsjahrzehnt, Rekordsteuereinnahmen und Traumarbeitslosenzahlen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen: Für die Zukunft scheint die deutsche Wirtschaft aktuell nicht gut gerüstet. Das zeigt der jüngst veröffentlichte „Länderindex Familienunternehmen„ des ZEW. Demnach ist die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts in den vergangenen erneut gesunken. Gerade mal den 16. von 21 Plätzen belegt Deutschland unter den untersuchten Industrienationen aus Europa, Nordamerika und Asien. Unterdurchschnittlich.

Alle zwei Jahre untersuchen die Mannheimer Ökonomen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Familienunternehmen mit einem Umsatz von mindestens 100 Millionen Euro. Unter die Lupe genommen werden dabei alle relevanten Rahmenbedingungen: Steuern, Energie, Infrastruktur, Regulierung, Finanzierung, Produktivität und Bildung. Der Befund ist eindeutig: Es besteht akuter politischer Handlungsbedarf, will Deutschland nicht den Anschluss verlieren. Zumal der konjunkturelle Gegenwind stärker wird. 

Deutschland muss sich dabei nicht nur der führenden Schweiz, den angelsächsischen Staaten Großbritannien, USA und Kanada und den Skandinaviern geschlagen geben. Auch die zentraleuropäischen Staaten des ehemaligen Ostblocks ziehen vorbei; vor allem Tschechien entwickelt sich sehr investorenfreundlich. Sogar in Portugal, das unter den Euro-Rettungsschirm musste, finden Mittelständler bessere Standortfaktoren als hierzulande. Schlechter schneiden nur Japan, Frankreich, Spanien und Italien ab. Es folgen die wichtigsten Erkenntnisse aus den Studienergebnissen.

Steuern: Mittelstand in Deutschland muss entlastet werden 

Die effektive Steuerlast ist einer der wichtigsten Standortfaktoren überhaupt. Nicht nur bei den Großkonzernen ist die Besteuerung ein entscheidendes Kalkül, auch beim Mittelstand in Deutschland spielt die Steuerlast eine exponierte Rolle. Wie viel Kapital nach dem Zugriff des Fiskus noch zukunftsweisend reinvestiert werden kann, ist am Ende maßgeblich für die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe – und ihrer Wirtschaft.

Deutschland erringt in der ZEW-Studie einen vernichtenden 20. Platz. Lediglich Japan steht noch schlechter da. Österreich und der Schweiz gelingen ein sechster und siebter Platz. Für Familienunternehmen am attraktivsten fällt die Besteuerung in den Visegrád-Staaten aus: die Slowakei, Tschechien, Ungarn und Polen. Zu den schlecht platzierten Vereinigten Staaten muss erwähnt werden, dass die große Steuerreform in der Bewertung noch keine Beachtung finden konnte.  Ihre wirtschaftliche Situation wird sich massiv verbessert haben.

Spätestens seitdem die Trump-Regierung im vergangenen Jahr die US-Unternehmenssteuern drastisch gesenkt hat, erhält das Thema Steuererleichterungen internationale Aufmerksamkeit. Hochsteuerländer wie Frankreich und Belgien sind bereits nachgezogen, in den nächsten Jahren werden ihre Steuersätze sinken. Deutschland droht den Anschluss zu verlieren, wäre dann Höchststeuerland.

Hierzulande  herrscht seit mehr als einem Jahrzehnt politischer Stillstand, was die Besteuerung von Unternehmen betrifft. Die Rufe aus der Wirtschaft werden lauter – und finden endlich in der öffentlichen Debatte Gehör. Der Zehn-Punkte-Plan des Bundeswirtschaftsministers Altmaier aus dem Herbst geht in die richtige Richtung, doch ein Plan allein reicht nicht. Am sozialdemokratischen Finanzminister Scholz beißt er sich die Zähne aus. Die Sozialdemokraten blockieren steuerliche Erleichterungen für Unternehmen, wollen allein den Koalitionsvertrag abarbeiten. Und das, obwohl das Finanzministerium jüngst erneut einen dicken Einnahmenüberschuss bekannt geben konnte. Immerhin schaltete sich die frisch gekürte CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ein, redete fiskalischen Anreizen das Wort. Von ihr könnte sich der Mittelstand in Deutschland perspektivisch mehr Rückenwind erhoffen als noch unter Bundeskanzlerin Merkel. Das Thema muss auf die Agenda!

Wir halten die vom BDI geforderte effektive Steuerbelastung von 25 Prozent als ein starkes Signal an die heimische Wirtschaft und den internationalen Wettbewerb.

Welche steuerlichen Anreize der Mittelstand in Deutschland braucht, um nicht ins Hintertreffen zu geraten: 

  • eine spürbare Senkung der Unternehmenssteuer
  • Abschaffung des Solidaritätszuschlags für alle Einkommensklassen, nicht nur die aktuell geplanten unteren 90 Prozent
  • steuerliche Förderung von Forschungsausgaben
  • kürzere Abschreibungszeiträume, um einer digitaler werdenden Wirtschaft eher gerecht zu werden

Auch die gerade für sehr viele Mittelständler bedeutsame Erbschaftsteuer ist ein großer  Wettbewerbsnachteil. Die Vermögensübertragung auf Kind und Ehepartner wird in vielen Industrieländern gar nicht oder zumindest deutlich geringer besteuert. Politisch sehen wir hier nach der letzten großen Reform 2016 aber keinen Spielraum – und das auf Jahre hinaus.

Infrastruktur und Institutionen: Nicht mehr als Durchschnitt

Unter diesen Schlagworten subsumiert die Studie die für den Erfolg von Unternehmen essentiellen Faktoren Transport- und Kommunikationsnetz, Rechtssicherheit und Kriminalität. Und auch hier stehen die deutschen KMU schlechteren Bedingungen gegenüber als noch vor zwei Jahren. Das Ergebnis: Es geht vom achten Rang runter auf die Neun. Durchschnitt, wohin das Auge reicht.

Das mit Abstand beste Gesamtpaket bietet weiterhin die Schweiz, gefolgt von den Niederlanden, die außer bei der Kriminalität Spitzenplätze belegen, und den Skandinaviern, die vor allem mit ihrem korruptionsarmen Rechtssystem überzeugen können. An Deutschland vorbeigezogen ist Kanada, die USA und Belgien bleiben im Mittelfeld. Zurückgefallen ist Frankreich, Schlusslichter sind wie bereits 2016 Polen, Italien und die Slowakei.

Verkehrstechnisch ist Deutschland so gut erschlossen wie nur wenige andere Industriestaaten, kann sich hinter den deutlich kleineren Niederlanden, der Schweiz und Belgien platzieren. Doch der Verschleiß nagt am Bestand. Der jahrelange Investitionsstau macht sich bemerkbar – ob durch Brückensperrungen, diversen Autobahnbaustellen oder dem Milliardenloch bei der Deutschen Bahn. Jede Stunde, in der ein Zulieferer im Stau steckt oder der Schienengüterverkehr zum Erliegen kommt, kostet die Unternehmen unnötig Geld. Im schlimmsten Falle verzögert sich die Produktion und damit der gesamte Betriebsablauf.

Noch größerer Handlungsbedarf besteht für die digitale Infrastruktur. Der Mittelstand in Deutschland darf nicht darunter leiden, dass er seiner ländlichen Heimat die Treue halten. Die regionale Verankerung der Familienbetriebe ist eine der Stärken der deutschen Wirtschaft. Dementsprechend brauchen wir eine flächendeckende Mobilfunk- und Internetanbindung. Alles andere ist ein Armutszeugnis für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Deutlich besser schlagen sich Schweden, die Schweiz, die Niederlande sowie Tschechien, das durch eine kluge Wirtschaftspolitik in vielen Bereichen zu einem mitteleuropäischen Tigerstaat geworden ist. Und der Punkt Telekommunikationsnetze wird noch massiv an Bedeutung zulegen, die Digitalisierung hat gerade erst begonnen. Ohne verlässliche und moderne Infrastruktur bleibt die Industrie 4.0 Zukunftsmusik.

In Sachen Rechtssicherheit hat Deutschland in den zwei vergangenen Jahren nachgelassen. Das Rechtssystem wird als relativ effizient beschrieben, nur knapp durchschnittlich sind die Ergebnisse mit Blick auf die Unabhängigkeit der Justiz und den Schutz von Eigentumsrechnungen. In der Korruptionskontrolle konnte sich Deutschland leicht verbessern, erreicht dank einer verbesserten Kontrolle von Mauscheleien im öffentlichen Sektor solide Werte. Was den Punkt „ethisches Verhalten von Unternehmen„ betrifft, ging die Bewertung überraschend runter, der Abgasskandal rund um den Einsatz von Schummelsoftware lässt grüßen.

Energie: Mittelstand in Deutschland leidet unter hohen Kosten

Auch für den wichtigen Standortfaktor Energie fällt das Zeugnis bescheiden aus: Mit dem 14. Platz verbessert sich Deutschland um einen Rang. Spitzenreiter sind hier die Amerikaner, gefolgt von den deutlich verbesserten Mitteleuropäern Ungarn, Tschechien und Polen sowie Spanien und Frankreich.

Zwar verfügt die Bundesrepublik über eine hervorragende Versorgungssicherheit mit Strom und ein nur minimales Importrisiko. Für deutsche Unternehmen deutlich wichtiger ist aber die Frage nach den Energiekosten – und mit denen kann Deutschland wahrlich nicht punkten. Der Atomausstieg und die verbesserungswürdige Umsetzung der seit 2011 forcierten Energiewende verunsichern die Unternehmen. Nur in Italien sind die Strompreise noch teurer, bei Gas- und Kraftstoffpreisen landet Deutschland im unteren Mittelfeld. Die hohe Abgabenlast, Stichwort EEG-Umlage, beansprucht gerade die Mittelständler über Gebühr. Hier muss die Politik nachjustieren. Hohe Energiekosten werden ein Problem bleiben. Und der Ausbau der Stromtrassen für erneuerbare Energien muss effizienter erfolgen.

Interessant: Im Teilindikator Klimaziele ging das Rating für Deutschland in den letzten zwei Jahren sogar leicht zurück. Wir hinken unseren Zielvorgaben trotz teurer Energiewende weiter hinterher.

Arbeitskosten, Produktivität und Bildung haben Luft nach oben

Beim sogenannten Humankapital erreicht Deutschland ebenfalls nur einen miserablen 17. Platz, schon vor zwei Jahren sah es mit dem 16. Rang nicht viel besser aus. Das mit Abstand beste Kosten-/Einnahmen-Verhältnis für den Faktor Arbeit finden die Wissenschaftler in Irland, gefolgt von Kanada und dem Vereinigten Königreich. Frankreich, Belgien und die Niederlande bleiben unter den Top Ten. Einen guten Sprung nach vorne hat Portugal gemacht. Deutschland erreicht zwar einen soliden Wert, was die Produktivität anbelangt, doch gleichzeitig sind die im Vergleich ohnehin hohen Ausgaben der Betriebe für die Mitarbeiter in den vergangenen Jahren weiter gestiegen.

Auch für den Indikator Bildung ist die Performance ausbaufähig. Abermals moniert wird der unterdurchschnittliche Anteil tertiärer Bildungsabschlüsse unter den Erwerbspersonen hierzulande. Ob eine Akademisierung vieler Facharbeiter-Berufsbilder wie sie im Ausland praktiziert wird, der Weisheit letzter Schluss ist, ist beileibe nicht so unumstritten wie es das internationale Echo von OECD und IWF widerspiegeln. Viele Nachbarländer beneiden Deutschland um sein starkes duales Ausbildungssystem. Auch die guten Testergebnisse der Schüler aus der Pisa-Studie stellen die ZEW-Autoren nicht in Abrede. Fakt ist aber, dass Deutschland viel zu wenig in seine Bildung investiert. In einer zunehmend komplexer werdenden Arbeitswelt, der mit der Digitalisierung ein historischer Umbruch bevorsteht, ist das nicht nachzuvollziehen.

Finanzierung: Kein Grund zur Klage

Ein starker zweiter Platz hinter den USA – der einzige Indikator, in dem der Wirtschaftsstandort seinem Anspruch tatsächlich gerecht wird. Es folgen Kanada, Großbritannien und erneut Tschechien. Deutschland lockt mit einer hervorragend niedrigen Verschuldungsquote – sowohl bei Betrieben, Haushalten als auch der öffentlichen Hand. Die Eigenkapitalquoten sind hoch, das Bankensystem stabil, der Gläubigerschutz auf internationalem Niveau. Freilich ist der Kreditmarkt im Vergleich zu den Amerikanern ausbaufähig. Alles in allem aber können die Mittelständler nicht über schlechte Finanzierungsbedingungen klagen.

Regulierung: Weniger Bürokratie vonnöten

Hier konnte der Standort etwas Boden gut machen, Deutschland rückt so weit vor wie kein anderes Industrieland: es geht rauf um drei Stellen auf Platz 13. Die Nase klar vorne haben die angelsächsischen Staaten USA, Großbritannien und Kanada, die Schweiz und Japan. Die Studie attestiert Deutschland eine flexible Regulierung von Einstellungen und Kündigungen sowie relativ einfache Unternehmensgründungen. Negativ schlägt sich die im internationalen Vergleich doch sehr starke betriebliche Mitbestimmung hierzulande in der Bewertung nieder. Solche historisch gewachsenen Beziehungen zwischen Unternehmenseignern und Arbeitnehmern erleben in den seltensten Fällen grundlegende Reformen. Man muss dazu aber auch sagen, dass die deutsche Wirtschaft mit ihrer Interpretation der Sozialpartnerschaft sehr gut durch die vergangenen Jahrzehnte gekommen ist. Die Politik sollte im Bereich der Regulierung zuvorderst den angestoßenen Bürokratie-Abbau intensivieren. 

 

 

Über den Kapitalmarktblog:

Hier schreiben die Kapitalmarktexperten der Quirin Privatbank über die deutsche Wirtschaft und alles, was den heimischen Mittelstand bewegt. Das erfahrene Team der Quirin Privatbank hat die Entwicklungen rund um die Mittelstandsfinanzierung immer im Blick und zeigt auf, welche alternativen Finanzierungsformen für KMU interessant sind.

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2 Kommentare

Peter Romanowski 05/02/2019 - 08:01

Der schumpetersche Wettbewerb nagt stets am Mittelstand. Neu ist die Digitalisierungswelle, die Unternehmer vor großen Herausfordeungen stellt. Wo anfangen, welche Connectivity ist notwendig, wer hilft? Können die 26 Kompetenzzentren weiterhelfen? Mitberechnen Unternehmen sind Kooperationen notwendig? Können Start-ups eine Bedrohung oder ein guter Kooperationspartner sein.
Wir sollten nicht wieder über Steuern und Infrastruktur lamentieren. Abgesehen vom Netzausbau wird sich daran nicht viel ändern.
Auch hinsichtlich der Stromkosten bieten Speicher einen großen Handlungsspielraum. So hat sich ein großer Stromverbraucher mit volatiler Verbrauchsprofil einen Speicher zum Peak Shaving zugelegt, der nach 3,5 Jahren seinen Break-even erreicht.
Für mich heißt das: Der deutsche Mittelstand hat einen großen Handlungsspielraum. Er sollte ihn nutzen. Jetzt!

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Benjamin Talin 21/05/2021 - 16:13

Die Weichen hätte man schon vor Jahrzehnten stellen müssen. Derzeit wird so viel von Digitalisierung, Bildung, Infrastruktur etc. verpasst, dass es für viele schon nicht mehr aufzuholen ist. Nur noch Metallbiegen und etwas zusammenbauen, ist kein nachhaltiges Geschäftsmodell wenn die besten und erfolgreichsten Geschäftsmodelle der Welt auf Plattformen und digitalen Ökosystemen aufbauen!

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