Der Versuch, den Kapitalmarktzugang für KMU mit einfacheren Listing Rules zu erleichtern, ist aller Mühen wert. Der Wertpapierprospekt steht hier schon seit Jahren im Fokus, insbesondere seitdem die EU diese Materie zur Schaffung einheitlicher Regelungen in der EU an sich gezogen hat. Wozu dient der Prospekt, wer liest ihn, welche Informationen sollte er enthalten und wie sind die von der EU vorgelegten neuen Maßnahmen zur Weiterentwicklung der EU-Kapitalmarktunion zu bewerten? Ein Gastbeitrag von Laurenz Wieneke.
Im Dezember des letzten Jahres hat die Europäische Kommission neue Maßnahmen zur Weiterentwicklung der EU-Kapitalmarktunion (CMU) vorgeschlagen. Eine der zentralen Stellschrauben ist erneut, bei welchen Transaktionen und in welchem Umfang die Investoren zuvor mit einem Wertpapierprospekt informiert werden müssen. Ausgangspunkt ist der Befund, dass die Notierung an öffentlichen Märkten für die Unternehmen mit erheblichen Anforderungen verbunden sei.
Die Kommission konstatiert, dass die Prospektdokumente „bis zu 800 Seiten“ lang seien. Die vorgeschlagenen Änderungen sollen die Dokumentation, die Unternehmen für eine Notierung an öffentlichen Märkten benötigen, vereinfachen und die Verfahren der Kontrolle durch die nationalen Aufsichtsbehörden straffen. Die Kosten sollen gesenkt werden, allerdings nur „soweit dies möglich ist“. Allein durch einfachere Prospektvorschriften sollen damit Einsparungen der Unternehmen in Höhe von 67 Mio. Euro pro Jahr erzielt werden können.
Der Versuch, den Kapitalmarktzugang für kleine und mittlere Unternehmen mit einfacheren Listing Rules zu erleichtern ist aller Mühen wert. Der Wertpapierprospekt steht hier schon seit Jahren im Fokus, insbesondere seitdem die EU diese Materie zur Schaffung einheitlicher Regelungen in der EU an sich gezogen hat.
Meine Kollegen haben an anderer Stelle die Einzelheiten des sog. EU-Listing Act erläutert. Daher will ich die Fragestellung hier einmal in einen größeren Kontext stellen, d.h. wozu dient der Prospekt, wer liest ihn, welche Informationen sollte er enthalten, und vor diesem Hintergrund die wesentlichen Vorschläge bewerten.
Sinn und Zweck des Wertpapierprospekts
Der Wertpapierprospekt hat eine zentrale Funktion im Kapitalmarktrecht. Er dient der Information und Warnung der Anleger, insbesondere bei einem erstmaligen öffentlichen Angebot, dem Initial Public Offeringoder IPO, und der Zulassung von Aktien zum Börsenhandel. Das Prinzip so einfach wie überzeugend. Die Anleger sollen möglichst umfassend über den Emittenten, das Geschäftsmodell, die damit verbundenen Chancen und Risiken, die finanzielle Performance der Vergangenheit und alle anderen anlagerelevanten Umstände informiert werden. Zu diesem Zweck erstellt der Emittent einen Prospekt, die nationalen Behörden prüfen die Einhaltung der gesetzlichen Mindestanforderungen und vor dem öffentlichen Angebot bzw. der Zulassung zum Handel wird der Prospekt veröffentlicht. Auf der Basis des Prospekts soll dann eine informierte Investitionsentscheidung möglich sein. Das dient nicht nur dem Schutz des einzelnen Anlegers, sondern auch informationseffizienten Märkten und damit einer volkswirtschaftlich sinnvollen Kapitalallokation. Sind die Angaben im Prospekt falsch, haftet der Emittent. Auf der Grundlage der Prospekthaftung kann der Anleger die Rückzahlung des Kaufpreises gegen Rückgabe der Wertpapiere verlangen. Das Haftungsrisiko incentiviert die Emittenten dazu, bei der Prospekterstellung hinreichend sorgfältig zu sein.
Was in der Theorie überzeugend klingt, hat es im Praxistest schwer. Die gesetzlichen Anforderungen an den Prospekt sind umfangreich. Allein die Delegierte Verordnung der EU-Kommission (2019/980) über die notwendigen Prospektinhalte ist fast 200 Seiten lang. Ob die verlangten Angaben immer sinnvoll sind, wird man bezweifeln können. Hinzu kommt, dass die Emittenten dazu tendieren, die Informationen gern ausführlich darzulegen, um nicht für eine vermeintliche Unvollständigkeit zu haften. Der Umfang der Prospekte erreicht daher schnell den des Telefonbuchs einer mittleren Großstadt. Ulrich Noack, Professor für Kapitalmarktrecht in Düsseldorf, hat es mit Blick auf den Börsenprospekt der Talanx AG im Jahr 2012 einmal auf den Punkt gebracht. Der Prospekt umfasst 1.160 Seiten, ganz überwiegend in englischer Sprache. Wer sofort mit Veröffentlichung des Prospekt anfängt zu lesen, müsse bis zum Ende des Angebots mehr als 110 Seiten pro Tag schaffen, sonst ginge der wohlmeinenden Hinweis zu Beginn des Prospekts, sich „bei jeder Anlageentscheidung auf die Prüfung des gesamten Prospektes zu stützen” in Leere.
Der Befund ist wie gesagt nicht neu. Das Institute for Law and Finance der Universität Frankfurt hat vor mehr als 10 Jahren in einer Veranstaltung alle Stakeholder zusammengerufen. Banker, institutionelle Investoren, Ratingagenturen, Aufseher, Kommunikationsspezialisten und Anwälte diskutierten die Frage „Was taugt der Wertpapierprospekt für die Anlegerinformation“. Ja, institutionelle Anleger schauen einmal über die Risikofaktoren, die Geschäftszahlen und über die wesentlichen Treiber für die finanzielle Entwicklung. Der ernüchternde Befund war im Übrigen aber, dass keiner in dem Ökosystem des Kapitalmarkts Frankfurt die Wertpapierprospekte im Detail liest – einmal abgesehen von den Anwälten, die sie schreiben müssen, und den Aufsehern von der BaFin, die sie prüfen und billigen müssen. Auch der Transformationsriemen der Intermediäre funktioniert nicht. Banken und andere Wertpapierdienstleister müssen ihre Kunden vor jeder von ihnen abgewickelten Investition anlage- und anlegergerecht informieren. Eine Analyse des Prospekts und eine anlegergerechte Aufbereitung der Informationen wäre in diesem Zusammenhang sinnvoll, bleibt aber eine Wunschvorstellung.
Wofür also dann noch ein Wertpapierprospekt? Es gibt eine, nicht sofort offensichtliche Funktion, die freilich nicht zu unterschätzen ist. Die Erstellung eines Prospekt zwingt den Emittenten, einmal nachzudenken und aufzuräumen, bevor Geld eingeworben wird. Eine sorgfältige Prospekterstellung zwingt dazu, die Unternehmensstrategie klar zu formulieren, die Risiken zu analysieren und die Finanzinformationen nach internationalen Standards aufzubereiten, um nur einige Punkte zu nennen. Investmentbanken leisten bei der Analyse einen wertvollen Beitrag. So wie jeder, der in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft am Markt tätig werden will, ein Mindeststartkapital von 50.000 Euro aufbringen muss, muss jeder, der den Kapitalmarkt in Anspruch nimmt, als Ausweis der Seriosität einen Wertpapierprospekt veröffentlichen. Unternehmen, die daran scheitern und das ist bei kleinen Unternehmen nicht selten, sind nicht kapitalmarktfähig. Das ist der Kern des berühmten Diktums des amerikanischen Juristen Louis Brandeis von 1914: “Publicity is justly commended as a remedy for social and industrial diseases. Sunlight is said to be the best of disinfectants; electric light the most efficient policeman.”
Neben dieser Gatekeeper-Funktion hat der Prospekt noch eine zweite, indirekte Bedeutung. Investorenpräsentationen und andere flankierende Dokumente im Zusammenhang mit dem Angebot dürfen keine wesentlichen Informationen enthalten, die nicht auch im Prospekt stehen. Das dient nicht nur der informationellen Gleichbehandlung aller Investoren, sondern führt im Ergebnis dazu, dass der prospektrechtliche Richtigkeitszwang sich auch auf andere Vermarktungsmaterialien erstreckt, insbesondere die Präsentationen, die bei der Ansprache institutioneller Investoren eine zentrale Rolle spielen.
Die wesentlichen Ansatzpunkte des EU-Listing Act
Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzuhalten, dass durch den EU Listing Act mehr Ausnahmen von der Prospektpflicht geschaffen werden. Es ergeben sich sowohl Erleichterungen bei Primär- als auch bei Sekundäremissionen.
So soll die Prospektausnahme für Kleinsttransaktionen ausgeweitet werden. Der bisherige Schwellenwert, bis zu dem eine prospektfreie Transaktion möglich ist, soll durch den EU Listing Act von 8 auf 12 Mio. Euro angehoben werden. Zudem sind sämtliche Sekundäremissionen im regulierten Markt oder einem KMU-Wachstumsmarkt von der Prospektpflicht befreit, sofern weitere Wertpapiere angeboten oder zugelassen werden, deren Umfang weniger als 40 % der bereits zugelassenen Wertpapiere ausmacht. Bisher liegt diese Grenze bei 20 %.
Soweit diese Voraussetzungen ganz oder teilweise nicht vorliegen, gibt es eine erhebliche Erleichterung durch die Einführung einer Veröffentlichungspflicht eines Nachfolgeprospektes (follow-on prospectus) bzw. eines Zusammenfassungsdokuments (summary document). Diese zeichnen sich gegenüber der bisher geltenden vereinfachten Prospektpflicht insbesondere durch eine Begrenzung der Seitenzahlen aus. Eine klare Linie ist hier kaum zu erkennen.
Bei Primäremissionen sollen Wertpapierprospekte anlegerfreundlicher werden, indem die Lesbarkeit durch Straffung in Form einer Seitenbegrenzung auf 300 A4-Seiten und Vereinheitlichung verbessert wird. Um den Zugang von kleinen und mittleren Unternehmen zum Kapitalmarkt zu fördern, wird zudem der Wachstumsprospekt zugunsten des Wachstumsemissionsdokuments abgeschafft. Auch dieses Dokument gilt als Prospekt im Sinne des Prospektrechts und ist auf 75 A4-Seiten begrenzt.
Ein Schritt in die richtige Richtung
Von größter Bedeutung für die Praxis wird die Anhebung der Prospektausnahme für Sekundäremissionen von 20% auf 40% sein. Neben der Erhöhung des Volumens kommt nämlich noch ein wesentliches qualitatives Element hinzu. Bislang galt die Ausnahme nur für die Zulassung von Aktien im regulierten Markt. Jetzt gilt sie auch für das meistens damit verbundene öffentliche Angebot von Aktien. Damit sind auch Bezugsangebote erfasst. Bislang sind im regulierten Markt nur Privatplatzierungen bei institutionellen Anlegern möglich, d.h. in erster Linie nur sog. 10%er. Die Rechtfertigung der breiteren Ausnahmen wird daran erkennbar, dass sie nur Emittenten im regulierten Markt und in KMU-Wachstumsmärkten zur Verfügung stehen. Diese Unternehmen müssen nach dem Börsengang umfangreiche fortlaufende Publizitätspflichten erfüllen, insbesondere die Regelpublizität (Finanzberichte) und die Ad hoc-Publizität (wesentliche neue Ereignisse). Aufgrund dieser fortlaufenden Sekundärmarktpublizität ist für die erneute Inanspruchnahme des Kapitalmarkts bei Kapitalerhöhungen ein Prospekt nicht erforderlich.
Eine wesentliche Verbesserung, die diese Prospektausnahme mit sich bringt, ist sicher die Kostenersparnis. Noch bedeutender ist allerdings, dass die Unternehmen viel schneller reagieren können, um flexibel einen Kapitalbedarf zu adressieren. Die Verfügbarkeit der Finanzinformationen, eine zweimonatige Prüfungsfrist der BaFin, enge Vorgaben der Wirtschaftsprüfer für einen Comfort auf das Zahlenwerk und allgemeine Ferienzeiten beschränken die Realisierbarkeit von prospektpflichten Kapitalmarkttransaktionen auf wenige kurze Zeitfenster im Jahr. Zukünftig sind Unternehmen kurzfristig handlungsfähig, was in volatilen Märkten ein enormer Vorteil ist.
Was im Übrigen die angestrebten Vereinfachungen für Prospekte anbelangt, ist jede Straffung und Kürzung zu begrüßen. Mit einem information overflow ist keinem Anleger gedient. Damit kommt der sinnvollen Selektion und Aufbereitung der Informationen eine zentrale Bedeutung zu. Dem wird die Praxis aber nur folgen, wenn auch die Rechtsprechung ihre teilweise völlig überzogenen Anforderungen an die Prospekthaftung zurücknimmt. Nur wirklich wesentliche Umstände sind für den Investor entscheidungserheblich. Solange aber jede vermeintliche Unrichtigkeit der Unvollständigkeit zu einer Haftung führen kann, und zwar auch für die begleitenden Banken, wird es bei den Prospekten eine Konzentration auf das Wesentliche nicht geben.
Dr. Laurenz Wieneke ist Partner der Kanzlei Noerr und Mitglied der Capital Markets und Real Estate Investment Groups. Einer seiner Schwerpunkte ist die aktien- und konzernrechtliche Beratung deutscher und internationaler Unternehmensgruppen bei Transaktionen, Umstrukturierungen und in den Bereichen Corporate Governance und Compliance.