Die doppelte Wesentlichkeitsanalyse (DMA) ist mehr als nur eine regulatorische Pflicht – sie kann ein echter strategischer Hebel sein. Richtig angewendet, hilft sie Unternehmen nicht nur dabei, Risiken frühzeitig zu erkennen und Berichtspflichten effizient zu erfüllen, sondern schafft auch konkreten wirtschaftlichen Mehrwert. Die folgenden Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Unternehmen von einer gezielten DMA profitieren – von Kosteneinsparungen über bessere ESG-Ratings bis hin zu neuen Finanzierungsmöglichkeiten.
Ein Gastbeitrag von Ariane Hofstetter
Seit ein paar Jahren ist die Doppelte Wesentlichkeitsanalyse (DMA) in aller Munde – , insbesondere durch die verpflichtende Integration in die Nachhaltigkeitsberichterstattung gemäß der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD). Die starke regulatorische Ausrichtung führt jedoch häufig dazu, dass der strategische Mehrwert der DMA unterschätzt oder übersehen wird. Dieser Beitrag beschäftigt sich daher gezielt mit dem tatsächlichen Nutzen und der konkreten Nutzung der DMA für Unternehmen.
Was Sie in diesem Beitrag erfahren werden:
- Regulatorischer Freiraum bei der Durchführung der DMA
- Überforderung durch Vielzahl und Art der Themen
- Integration der Stakeholder-Perspektiven
- Zu selten Reifezeit für Ergebnisse
… und auch etwas über große und kleine Erfolge, die zeigen, warum es sich lohnt, die DMA gezielt durchzuführen. Zum Beispiel:
- Reduzierter Berichtsumfang durch Fokussierung: Ein Unternehmen aus dem Finanzbereich konnte seinen Nachhaltigkeitsbericht um 50% kürzen – ohne Abstriche bei der ESG-Rating-Relevanz.
- CO₂- und Kosteneinsparungen im Vertrieb: Ein produzierendes Unternehmen konnte siebenstellige Beträge einsparen.
- Erhöhte Attraktivität als Zulieferer: Durch gezielte Bereitstellung relevanter Nachhaltigkeitsdaten in Folge der DMA konnte sich ein weiteres produzierendes Unternehmen als Lieferant strategische Vorteile verschaffen.
- Früherkennung von Risiken: Ein Unternehmen identifizierte dank Stakeholder-Dialog kritische Themen in Verbindung mit einem neuen, geplanten Geschäftsbereich frühzeitig – bevor sie Investoren verunsichern konnten.
- Erfolgreiche nachhaltige Finanzierung: Die DMA bildete die Grundlage für ein Green Finance Framework für ein Immobilienunternehmen. Dieses Unternehmen konnte sich einen neuen Finanzierungskanal eröffnen (Green Finance), sammelte mehr als 400 Millionen Euro ein und erzielte einen entsprechenden Zinsvorteil (Greenum).
Grundlage meiner Ausführungen
Die im Folgenden vorgestellten Erkenntnisse sind das Ergebnis aus über 1.000 analysierten Nachhaltigkeitsberichten, die wir im Rahmen des Global ESG-Monitors (GEM) untersucht haben, sowie der praktischen Beratungserfahrung aus der Zusammenarbeit mit vor allem mittelständisch geprägten Unternehmen. Mehr zu unseren Daten finden Sie auf unserer Website GlobalESGMonitor.com.
Nutzen und Nutzung der Doppelten Wesentlichkeitsanalyse
Die eher ethisch geprägte Perspektive auf Nachhaltigkeit, wie sie im Rahmen der Corporate Social Responsibility (CSR) häufig angewendet wurde, hat mit der doppelten Wesentlichkeit ein stark benötigtes Update bekommen: Nachhaltigkeit wird nunmehr als ein System gegenseitiger Abhängigkeiten verstanden, in dem Unternehmen, Umwelt, Gesellschaft und Kapitalmarkt über verschiedene Wertschöpfungsprozesse und Ansprüche miteinander verbunden sind. Das bedeutet:
Eine Analyse der Auswirkungen, Risiken und Chancen schafft Fokussierung: Das macht nicht nur die Nachhaltigkeitsberichte kürzer, sondern sorgt auch dafür, dass Unternehmen sich nicht verzetteln, sondern sich auf strategisch relevante Aspekte fokussieren können.
Als Erweiterung des Risiko- und Chancenmanagements verbessert die DMA die Widerstandsfähigkeit des Unternehmens: Gleichzeitig eröffnen sich neue Perspektiven, die sowohl wirtschaftliche Potenziale erschließen als auch zum Beispiel die Kundenloyalität nachhaltig erhöhen können.
Mehr als nur eine Frage von Reputationsrisiken: Anstelle eines reinen Fokus’ auf Zielgruppen rückt jetzt das gesamte Stakeholder-Spektrum in den Blick. Denn: Die „License to Operate“ eines Unternehmens hängt längst nicht mehr allein von zufriedenen Kunden ab, sondern ebenso vom Vertrauen von Investoren und anderen Kapitalgebern, guten ESG-Ratings oder stabilen Zuliefererbeziehungen und engagierten Mitarbeitenden.
Vier Problembereiche bremsen Nutzen und Nutzung der Wesentlichkeitsanalyse
Die Daten des Global ESG Monitors weisen auf vier große Problembereiche hin, die die Nutzung als auch den Nutzen der doppelten Wesentlichkeitsanalyse (DMA) als strategisches Werkzeug zur Fokussierung ausbremsen.
Unklarer Rahmen – unsicheres Handeln
Der erste Problembereich resultiert aus dem regulatorischen Freiraum, denn die ESRS schreiben nicht genau vor, wie die Unternehmen zum Ziel kommen. Für viele Mittelständler sind die von EFRAG ergänzend herausgegebenen Implementation Guidelines (IG) oft zu vage, um die notwendige Sicherheit bei der Umsetzung zu bieten – insbesondere, wenn über dem gesamten Prozess das Damoklesschwert des Wirtschaftsprüfer-Testats schwebt. Um diese Unsicherheit zu beseitigen, haben wir verschiedene instruktive Tools entwickelt, die dafür sorgen, dass Unternehmen diese Prozesse strukturiert, angeleitet und mithilfe von klaren Entscheidungsvorlagen durchlaufen können.
Deduktion gewährleistet Vollständigkeit, während Induktion sicherstellt, dass relevante Themen erkannt werden. Konkret können hier Peergroup-Analysen wie die des Global ESG Monitor zum Einsatz kommen: Sie ermöglichen nicht nur eine Analyse des Ambitionsniveaus, sie helfen vor allem bei der Identifikation von Best-Practice-Beispielen und beim Abgleich mit von anderen identifizierten Auswirkungen, Risiken und Chancen (IROs).
Ebenfalls hilfreich sind Daten geeigneter Organisationen, Verbände oder internationaler Institutionen, die wertvolle Lernstimuli bieten. So liefern etwa Plattformen wie ENCORE Nature wertvolle branchenspezifische Informationen, beispielsweise zu Umweltauswirkungen und Abhängigkeiten von natürlichen Ressourcen. Trotz der intensiven Beschäftigung mit dem Thema Nachhaltigkeit über die letzten Jahre ist es immer noch neu, und Unternehmen sollten versuchen, mithilfe von Best Practices, Daten und eigenen Erfahrungen einen offenen Lernprozess zu gestalten.
Wesentlichkeit nach Bauchgefühl? Überforderung bei der Themenwahl vorbeugen
Unsicherheiten über Prozess und Methodik zur Durchführung der DMA führen unmittelbar zum zweiten Problembereich: Art und Umfang der zu analysierenden Themen. Insgesamt umfassen die Standards über 90 Teilthemen, von denen zahlreiche oft weit außerhalb der bisherigen Unternehmenswahrnehmung liegen. Folglich fehlen vielfach Expertise, Daten und klar definierte Verantwortlichkeiten. Hinzu kommt die Komplexität der Lieferkette, die für viele Unternehmen noch blinde Flecken aufweist.

Anstatt direkt zur Bewertung der Wesentlichkeit von Themen vorzupreschen, kann – insbesondere bei der erstmaligen Durchführung einer DMA – ein Screening-Prozess das Verständnis der Themen und ihrer möglichen Schnittstellen zum Unternehmen schärfen.
Die Auswertungen des Global ESG Monitors (GEM) zur Berichterstattung über die Durchführung der Wesentlichkeitsanalyse legen nahe, dass einige Unternehmen ihre Longlist wesentlicher Themen (IROs) vor allem auf Grundlage theoretischer Hypothesen oder vergangener Erfahrungen erstellen. Dadurch bestünde allerdings die Gefahr, wichtige Themen vorschnell auszuschließen, gerade dann, wenn hier induktive und deduktive Verfahren nicht kombiniert angewandt werden.
Falls intern keine eigenen Daten verfügbar sind, ist es entscheidend zu prüfen, welche externen Datenquellen und Informationen sinnvoll eingebunden werden können, zum Beispiel in Form von ESG Rating-Daten, die wiederum von Banken und Investoren genutzt werden und die Auskunft darüber geben können, welche Maßstäbe an ein Unternehmen angelegt werden.
Statistisch tief gestapelt: Stakeholder-Einbindung nach Schema X
Der dritte Problembereich betrifft die notwendige Erweiterung der Perspektive – von einer engen Zielgruppenbetrachtung hin zu einer umfassenden Stakeholder-Analyse. GEM-Auswertungen zeigen, dass in der Praxis oft wenig differenzierte Ansätze zur Erhebung von Stakeholder-Interessen und Bedürfnisse eingesetzt werden. Methodische Schwächen zeigen sich insbesondere im Umgang mit Grundgesamtheiten, Stichproben sowie methodischer Vielfalt bei der Erhebung der Stakeholder Insights.
Auch die Integration der Erkenntnisse, vor allem die der „stillen Stakeholder“ wie der Natur, stellt für die Unternehmen erhebliche Schwierigkeiten dar. Wichtig sind aus unserer Erfahrung hierbei vor allem die Dimensionen Betroffenheit, finanzielle Konsequenzen und/oder strategische Relevanz.
Wir empfehlen daher eine systematische Stakeholder-Identifikation entlang der gesamten Wertschöpfungskette, differenzierte Mapping-Verfahren und eine sorgfältige Auswahl geeigneter Engagement-Methoden, die das gesamte Spektrum direkter, indirekter, qualitativer und quantitativer Methoden nutzt.
Reputationsrisiken im Zeitraffer
Der vierte Problembereich entsteht, wenn zwischen Abschluss der doppelten Wesentlichkeitsanalyse und Veröffentlichung der Berichte keine Zeit für die Reifung der Ergebnisse bleibt. Das sorgt nicht nur für Stress beim Zusammentragen der Daten für das Reporting, sondern kann auch zu Reputationsrisiken führen.
Erste, in Entsprechung oder Anlehnung an die ESRS veröffentlichte Berichte wurden bereits in sozialen Medien kritisch hinterfragt. NGOs werden diese Daten ebenfalls nutzen, um ihrer Rolle innerhalb des Green Deals gerecht zu werden und Unternehmen stärker zu kontrollieren. Hier empfehlen wir, sich diese Zeit zu nehmen und sich ein Bewusstsein für die Implikationen der Ergebnisse zu bilden.
Fazit
Regulatorischer Freiraum kann eine Chance sein, den Prozess und die Durchführung sowie das damit verbundene Reporting noch besser auf die eigenen Bedürfnisse abzustimmen. Die Stop-the-Clock-Verordnung der Europäischen Union hat vielen Unternehmen noch einmal Zeit für eine besonnene Bestandsaufnahme beim Thema Nachhaltigkeit verschafft. Diese Zeit muss dringend konstruktiv genutzt werden, um echte, belastbare Entscheidungsgrundlagen zu erstellen, die nach innen und nach außen überzeugen.
Das ist nicht nur aufgrund möglicher Folgeregulierungen wichtig: Es geht ja übergeordnet darum, Unternehmen resilient zu machen und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie ihr Chancen- und Risikomanagement erweitern können. Und genau hier setzt die Doppelte Wesentlichkeitsanalyse an. Mit einer strukturierten Herangehensweise sowie instruktiven Tools kann man sich sehr gut für die in diesem Artikel angesprochenen Herausforderungen wappnen und die Doppelte Wesentlichkeitsanalyse als ein Werte schaffendes und bewahrendes Instrument in ein Unternehmen integrieren.
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Über die Autorin:
Ariane Hofstetter leitet im Vorstand der cometis AG, einem Beratungshaus für Capital Markets und Corporate Sustainability, den Bereich Nachhaltigkeit.
In dieser Rolle bringt sie ihre Erfahrung aus mehr als 15 Jahren angewandter Sozial- und Wirtschaftsforschung ein, um Unternehmen bei dem Erreichen ihrer strategischen Nachhaltigkeitsziele zu unterstützen und zu begleiten. Schwerpunkt ihres datenbasierten und empirisch strukturierten Beratungsansatzes ist die ganzheitliche Umsetzung und Aufwertung von regulierter und freiwilliger Nachhaltigkeitskommunikation beispielsweise durch die professionelle Durchführung von Doppelten Wesentlichkeitsanalysen.
Zudem ist sie Mitgründerin des Global ESG Monitors (GEM), eines Think Tanks für Corporate Sustainability. Mit dem von ihr entwickelten Analyse-Tool GEM ASSAY wurde bereits die Qualität von mehr als 1.000 Nachhaltigkeitsberichten untersucht und vorgestellt – anhand von mehr als 5.000 objektiven und überprüfbaren Variablen.
Über den Kapitalmarktblog:
Hier schreiben die Kapitalmarktexperten der Quirin Privatbank über die deutsche Wirtschaft und alles, was den heimischen Mittelstand bewegt. Das erfahrene Team der Quirin Privatbank hat die Entwicklungen rund um die Mittelstandsfinanzierung immer im Blick und zeigt auf, welche alternativen Finanzierungsformen für KMU interessant sind.