Deutschland gehört wirtschaftlich zu den Schwergewichten der Welt: Exportweltmeister, Technologietreiber, Heimat globaler Marktführer. Doch beim Blick auf die Börsenlandschaft zeigt sich ein anderes Bild. Während deutsche und ebenso österreichische Unternehmen international in der Champions League spielen, wirkt ihr Heimatkapitalmarkt eher wie die zweite Liga. Besonders deutlich wurde das im Jahr 2023, als der Gasspezialist Linde als echten Tiefpunkt endgültig der Frankfurter Börse den Rücken kehrte.
Linde – ein Lehrstück für den Standortnachteil
Linde war bis dahin das wertvollste Unternehmen im DAX. Nach der Fusion mit Praxair 2018 hatte die neue Linde plc zwar noch ein Zweitlisting in Frankfurt, doch der Fokus lag längst auf der Börsennotierung in New York. Das Handelsvolumen dort war höher, die Bewertung besser. Als die Aktionäre 2023 für das Delisting in Frankfurt stimmten, war das ein Schock für viele Börsenbeobachter – und ein Symbol: Der deutsche Kapitalmarkt kann mit den USA nicht mithalten. Seitdem ist Linde im S&P 500 vertreten und hat seine Marktkapitalisierung von rund 150 auf knapp 200 Milliarden Euro gesteigert.
Delistings und neue Listings im Ausland
Linde war kein Einzelfall. Nach Daten der Kanzlei Noerr gaben allein 2024 bereits 20 Unternehmen ihre Notierung an deutschen Börsen auf, 2023 waren es elf. Gleichzeitig entschieden sich immer mehr deutsche Firmen für einen Börsengang im Ausland oder ein zusätzliches Listing. Besonders die Biotech-Branche wich aus: Biontech, Curevac, immatics und immunic gingen zwischen 2018 und 2020 an die Nasdaq, dem Leitmarkt für Biotechnologie. Immunic verlagerte sogar seinen Stammsitz in die USA, um näher an den Investoren zu sein.
Ein wichtiger Punkt: Deutsche Unternehmen können ihre Aktien nicht einfach direkt an der Nasdaq oder NYSE handeln. Sie müssen ihre Aktien entweder in US-Wertpapiere wie American Depositary Receipts (ADRs) „verpacken“, den Firmensitz ins Ausland verlagern oder Rechtsformen nutzen, die in den USA anerkannt sind – zum Beispiel die niederländische N.V. Gerade Biotech-Unternehmen wählen diesen Weg, weil die großen Branchenindizes in den USA angesiedelt sind, es einfach eine breitere Investorenlandschaft gibt, die Kapitalgeber auch durch die Breite der universitären Forschungslandschaft bis hin zur klinischen Entwicklung über mehr Fachkompetenz verfügen und auch einfach finanziell tiefere Taschen haben.
Wenn nicht Börsenotierung in den USA, dann …
Doch auch in Europa suchen deutsche Unternehmen Alternativen. Der Sandalenhersteller Birkenstock entschied sich 2023 für ein IPO an der NYSE – neben dem Kapital spielte hier auch der Imagefaktor und die Markenbekanntheit in den USA eine Rolle. Andere wie Puma nutzen die Pariser Börse Euronext als Zweitlisting, um sich breiter aufzustellen.
Noch komplizierter wird es mit einer Börsennotierung an den als Vorbild gehandelten skandinavischen Märkten. Schwedens Kapitalmarkt gilt als dynamisch und investorenfreundlich. Doch auch dort können deutsche Unternehmen nicht einfach „mitmachen“. Sie müssen Swedish Depositary Rights nutzen oder den Sitz nach Schweden verlegen – wie es etwa die Verve Group SE getan hat.
Auch die Londoner Börse ist ein beliebtes Ziel, sei es im Premium-Segment oder im wachstumsorientierten AIM-Markt. Selbst kleinere deutsche Firmen nutzen die dortigen Strukturen für internationale Sichtbarkeit und eine breitere Investorenbasis. Benannt sei hier als Beispiel der Merger der Protagen Diagnostics in die Ocimmune.
Blick über die Grenze: Österreich
Auch österreichische Unternehmen stehen vor einer ähnlichen Herausforderung: Die Wiener Börse ist historisch etabliert, spielt international aber eine Nebenrolle. Um den Zugang zu Kapital zu verbessern, zieht es einige große ATX-Unternehmen zu einer Börsennotierung ins Ausland. So notieren Konzerne wie Erste Group Bank oder OMV zusätzlich in Prag und Warschau. Die Wiener Börse hat zudem mit ihrem „Vienna MTF“ und einer Vielzahl von Listings osteuropäischer Firmen eine wichtige Drehscheibenfunktion. Doch für Wachstumsunternehmen gilt ähnlich wie in Deutschland: Wer wirklich große Finanzierungsrunden stemmen will, schaut insbesondere in Richtung New York.
Regionale Börsen in Deutschland
Neben Frankfurt und Xetra gibt es in Deutschland insbesondere noch zwei Regionalbörsen auf der Aktienseite, die in Nischen aktiv sind:
- Börse München: Sie betreibt das Segment m:access, das speziell auf mittelständische Unternehmen zugeschnitten ist. Hier finden sich zahlreiche kleinere und regionale Gesellschaften, die bei einer Börsennotierung in Frankfurt kaum Sichtbarkeit hätten.
- Börse Düsseldorf: Mit ihrem Primärmarkt bietet sie ebenfalls eine Plattform für Mittelständler und junge Unternehmen. Zudem ist Düsseldorf traditionell stark im Handel mit Anleihen, Zertifikaten und kleineren Aktienwerten.
Auch wenn diese Regionalbörsen im internationalen Vergleich kaum Gewicht haben, spielen sie für den deutschen Mittelstand eine nicht zu unterschätzende Rolle – sie bieten niedrigere Eintrittshürden für eine Börsennotierung und persönlichen Kontakt zu Investoren, was für kleinere Gesellschaften attraktiv ist.
Schwergewichte mit doppeltem Standbein
Einige deutsche Konzerne gönnen sich gleich mehrere Börsenplätze:
- SAP, Deutsche Telekom, Infineon, Fresenius Medical Care sind seit Jahrzehnten auch an der Wall Street notiert.
- Allianz, Adidas, Covestro oder Siemens setzen zusätzlich auf London.
Das Ziel ist fast immer dasselbe: mehr Handelsvolumen, höhere Bewertung, internationalere Investoren.
Zahlen, die zum Nachdenken anregen
Von den rund 750 deutschen Unternehmen, die Ende 2024 börsennotiert waren, ist nur ein Bruchteil, nämlich ganze 27, im Ausland vertreten. Doch laut einer Analyse von Going Public entfallen rund neun Prozent der gesamten Marktkapitalisierung auf genau diese Firmen – ein klarer Hinweis, dass es vor allem die Großen und Global Player sind, die im Ausland bessere Bedingungen finden.
Ein internationaler Vergleich zeigt zudem die Schwäche des deutschen Kapitalmarkts. Zum Vergleich: Es gab 2024 insgesamt 183 Börsengänge in den USA, 170 in China und in der EU insgesamt 125. Davon entfielen auf Deutschland lediglich sieben IPOs.
Ausblick
Die Beispiele zeigen: Deutsche und auch österreichische Unternehmen sind zwar global erfolgreich, ihr jeweiliger Heimatkapitalmarkt im internationalen Vergleich ist es leider weniger. Ob New York, London, Paris, Amsterdam oder Stockholm – immer häufiger weichen Unternehmen aus, um mehr Kapital, Investoren und Sichtbarkeit zu finden.
In den kommenden Beiträgen werfen wir deshalb einen genaueren Blick auf die einzelnen Börsensegmente, die deutsche (und österreichische) Unternehmen weltweit nutzen – von der NYSE, Nasdaq in New York und Stockholm über die Euronext bis hin zur Frankfurter Wertpapierbörse, der Wiener Börse und den deutschen Regionalbörsen.
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