Die EU will den Börsenzugang insbesondere für den Mittelstand durch eine Kapitalmarktunion verbessern und vereinheitlichen. Ein Vergleich zeigt: Das ist auch bitter nötig, denn in einigen europäischen Ländern sind Small Caps, also Aktien von kleineren Unternehmen mit niedrigem Börsenwert, deutlich willkommener als hierzulande. Warum Skandinavien die übrigen europäischen Börsen aussticht.
Das deutsche Medizintechnikunternehmen Bentley Innomed wagt das Börsendebüt. Der erfolgreiche Mittelständler aus der baden-württembergischen Kleinstadt Hechingen hat sich allerdings gegen eine Börsennotierung in Frankfurt entschieden. Auch London oder New York kommen für das Unternehmen nicht in Frage. Stattdessen soll das Initial Public Offering (IPO), wie der Börsengang auch genannt wird, in der schwedischen Hauptstadt Stockholm über die Bühne gehen. Warum? Und was macht die Börse in Stockholm für Small Caps wie Bentley so attraktiv?
Zwar kennt Europa den gemeinsamen Binnenmarkt, einen länderübergreifend durchlässigen Arbeitsmarkt und nicht zuletzt dank des Euro einen gemeinsamen Währungsraum. Güter und Dienstleistungen können in der Europäischen Union ohne Zölle und ohne Ein- und Ausfuhrbeschränkungen gehandelt beziehungsweise beauftragt werden. Aber mit Blick auf die Kapitalmärkte gibt es zwischen den EU-Staaten immer noch Ländergrenzen und einen Flickenteppich unterschiedlichster Regulierungen. Gerade, was den Kapitalmarktzugang von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) angeht, klaffen die Anforderungen und Kosten eines Börsengangs für KMU zwischen den Ländern auseinander. Und auch die Aktienkultur ist in einigen Ländern für Small Caps förderlicher.
Dass die Wahl von Bentley auf Stockholm gefallen ist, hat mehrere Gründe. Zum einen stammt die in Deutschland lebende Gründerfamilie aus Schweden, vor allem aber verspricht sich Bentley-Chef Sebastian Büchert von der Notierung in Stockholm größere Nachfrage der Investoren. In Schweden hätten Anleger großes Interesse an Medizintechnikunternehmen, selbst wenn es kleine Mittelständler sind, sagt Büchert im Interview mit „Der Aktionär“.
Große Unterschiede an den Small-Cap-Märkten in Europa
Keine Frage, zwischen den europäischen Staaten herrschen immer noch große Unterschiede auf den Aktienmärkten für Small Caps, hierzulande gern Nebenwerte genannt. In Deutschland etwa sind der bürokratische Aufwand und die Auflagen durch die staatliche Regulierung höher als etwa an der amerikanischen Technologiebörse Nasdaq. Zudem sind auch die (Folge-)Kosten für einen IPO vergleichsweise hoch. All das würden die Börsenneulinge jedoch sicherlich in Kauf nehmen, wenn die deutschen Anleger und Anlegerinnen Begeisterung für Nebenwert-Investments zeigen würden. Denn dann wäre es sehr wahrscheinlich, dass der Aktienkurs auch nach seinem Debüt weiter steigt und die notierten Unternehmen so immer wertvoller werden.
Doch in Deutschland ist die Aktienkultur immer noch ein Trauerspiel. Seit sich Privatanleger mit der „Volksaktie Telekom“ um die Jahrtausendwende die Finger böse verbrannt haben, gelten Aktien als hochriskante, im Zweifel verlustreiche Geldanlage – und zwar nicht nur bei vielen Sparern, sondern auch bei den Aufsichts- und Regulierungsbehörden. So sorgen etwa die Eintrittshürden auf dem Kapitalmarkt mit Mindestanforderungen an Streubesitz und Börsenwert sowie geforderte Berichtspflichten für nur verhaltenes Interesse des Mittelstands an einem IPO. Bei Anlegern schreckt zudem das Lesen der Risikohinweise und das Eintragen der persönlichen Risikoeinstufung vom Aktienkauf ab. Grob zusammengefasst sollen Anleger vor den Risiken von Börsengeschäften gewarnt werden, insbesondere vor den Gefahren, die kleinere Wachstumswerte mit sich bringen. Trotz einiger Lichtblicke für die deutsche Aktienkultur durch den Markteintritt von Neobrokern wie Trade Republic, Scalable oder Flatex sind Börseninvestments in Deutschland deutlich unbeliebter als bei unseren europäischen Nachbarn.
Im Ausland sind Anleger weniger ängstlich
Andere Länder betrachten die Börseninvestments von Privatanlegern deutlich pragmatischer. In den USA beispielsweise gehören Aktien schon seit jeher zur privaten Altersvorsorge. Auch die Pensionskassen und -fonds, die einen großen Teil der amerikanischen Altersvorsorge verwalten, sind an den Aktienmärkten wichtige Marktakteure. Dass Sparer in den USA Aktien im Depot haben, ist völlig normal. Zudem lockt die Technologiebörse Nasdaq zahlreiche Start-ups an, die sicher sein können, mit ihren Aktien auf großes Interesse bei Privatanlegern und Profi-Investoren zu stoßen. Dass die Verlustrisiken bei solchen jungen Unternehmen für die Anleger höher als bei etablierten Industriewerten sind, nehmen die amerikanischen Anleger geflissentlich zur Kenntnis. Der Nachfrage nach Nebenwerten tut dies keinen Abbruch, im Gegenteil stehen die Renditechancen der wachstumsstarken Aktien im Fokus.
Ähnlich ist es in Schweden. Auch dort gibt es eine ausgeprägte Aktienkultur, ein Großteil der privaten Altersvorsorge wird an der Börse investiert. Hinzu kommt, dass Erträge aus Börseninvestments, die der Altersvorsorge dienen, steuerfrei bleiben. Das Nebenwerte-Segment ist an den skandinavischen Börsen fest etabliert und überdurchschnittlich erfolgreich. Der Nasdaq First North Growth Market ist eine Tochter des amerikanischen Börsenbetreibers Nasdaq. Er lockt mit niedrigen Hürden für ein IPO erfolgreich kleine und mittelständische Unternehmen an seine Börsenplätze in Dänemark, Finnland, Schweden sowie in den baltischen Staaten und erreicht damit insbesondere Kleinanleger, die das große Kurspotenzial der Wachstumsunternehmen in ihrem Depot haben wollen.
So hat sich die Stockholmer Börse zum wichtigsten europäischen Handelsplatz für Small Caps in Europa entwickelt. Allein in Schweden, Dänemark und Finnland verzeichnete die Nasdaq First North 535 gelistete Unternehmen, während im Wachstumssegment Scale der Deutschen Börse lediglich 50 Firmen notieren. Zwischen 2015 und 2022 gab es an der Nasdaq First North 558 Börsengänge, während im gleichen Zeitraum das britische Pendant, das Börsensegment AIM der Londoner Börse, lediglich 425 IPOs anlockte. An der Pariser Euronext waren es sogar nur 275 Börsengänge. Im laufenden Jahr hatte die Nasdaq in Stockholm bereits acht Neuzugänge an der Börse, in Deutschland schaffte lediglich die United-Internet-Tochter Ionos den Gang aufs Börsenparkett – und enttäuschte die Anleger bisher bitter.
Nasdaq Nordic zeigt, wie es geht
Schon ab einer Marktkapitalisierung von zehn Millionen Euro können Unternehmen im Stockholmer Wachstumssegment ein IPO wagen, ins deutsche Scale-Segment kommen nur Unternehmen, die mindestens eine Marktkapitalisierung von 30 Millionen Euro erreichen. Dabei ist die Anforderung an den Anteil frei handelbarer Aktien in Schweden höher: Statt der bei uns geforderten zehn Prozent Streubesitz müssen für eine Notierung in Stockholm auch Wachstumsunternehmen bereits 25 Prozent Streubesitz vorweisen können. Dass der durchschnittliche Börsenwert im deutschen Scale-Segment fast dreimal so hoch ist wie in Stockholm, mag Qualität suggerieren, hilft aber nicht, mehr Interesse bei Anlegern zu wecken.
Bentley Innomeds avisierter Börsengang in Stockholm dürfte daher keine Ausnahme bleiben. Bereits 2021 zog es ein Fünftel der europäischen Börsendebütanten an die Nasdaq Nordic. Dort stammen bereits 140 von den 558 im Nasdaq Nordic notierenden Unternehmen aus dem Ausland. Wenn Deutschland es nicht schafft, die Zutrittshürden für Börsengänge kleiner, wachstumsstarker Unternehmen zu senken und die Aktienkultur der deutschen Sparer zu wecken, geht dieser Markt wohl dauerhaft an die Börsen in Stockholm, London und Paris. Das wäre schade, denn die kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) aus Deutschland haben Anlegern viel zu bieten, wenn man sie lässt.
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