Im Februar hat die EU-Kommission eine neue Standardisierungsstrategie veröffentlicht. Sie soll unter anderem die internationale Vorreiterrolle der EU absichern. Eine europäisch geprägte Norm macht es für deutsche KMU leichter, Produkte in alle Welt zu verkaufen. Andererseits verfolgt die neue Strategie auch politische Absichten. Das bereitet dem deutschen Mittelstand zu Recht Sorgen.
Im Frühjahr hat die Europäische Kommission eine neue Normungsstrategie vorgelegt. Damit umreißt sie ihr Konzept für die Normung von industriellen und technologischen Produkten im europäischen Binnenmarkt und weltweit. Das hat auch Folgen für den Mittelstand.
Ziel der Strategie ist laut Kommission „die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken, den Wandel hin zu einer resilienten, grünen und digitalen Wirtschaft zu ermöglichen und demokratische Werte in Technologieanwendungen zu verankern.“ Aus Unternehmersicht ist das grundsätzlich begrüßenswert. Gleichzeitig droht die politische Einmischung seitens der EU die Unabhängigkeit der Wirtschaft zu gefährden. Politische Vorgaben könnten die Unternehmen zwingen, ihre Produkte aufwändig anzupassen. Neben zahlreichen anderen jüngst erst beschlossenen Regularien – unter anderem die neuen Klimaziele der Bundesregierung oder die neue EU-Taxonomie, die gerade KMU den Zugang zum Kapitalmarkt erschwert – entstünden damit weitere Hürden für den deutschen Mittelstand.
China gewinnt bei Normungen an Einfluss
Hintergrund der europäischen Maßnahmen ist, dass Europa seine Vorreiterrolle bei der Normung zu verlieren droht. Noch besetzen deutsche Vertreter in den Gremien der Internationalen Organisation für Normung (ISO) einen Großteil der wichtigen Positionen. Doch büßt Deutschland zunehmend an Einfluss ein – zugunsten von China. Zwar besetzt die Bundesrepublik mit 132 Sitzen die meisten Sekretariatspositionen in der ISO. Jedoch wuchs die Zahl chinesisch besetzter Sekretariatsposten von sechs im Jahr 2000 auf 79 im Jahr 2019. Vor allem im Bereich neuer Technologien dominiert China, da das Land über die meisten Experten in dem Bereich verfügt. Insgesamt ist die Volksrepublik in den meisten technischen Komitees der ISO vertreten, nämlich 732-mal, gefolgt von Großbritannien und Deutschland, die in 714 beziehungsweise 703 Komitees vertreten sind.
Das hat nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Konsequenzen. Beispielhaft ist der chinesische Versuch, in den Gremien der Internationalen Telekommunikationsunion ein neues Internetprotokoll durchzusetzen. Das Protokoll versprach zwar unter anderem Verbesserungen bei der Datengeschwindigkeit. Gleichzeitig hätte es aber auch an Nutzerrechten wie der Anonymität oder der Gleichrangigkeit der User im Netz gerüttelt. Das Vorhaben wurde vorerst gestoppt. Der Fall zeigt aber, wie einzelne Länder über industrielle und technische Standards auch politisch Einfluss nehmen können. Das gilt auch für die ISO-Normen. Bereits seit Jahrzehnten entwickelt China zunehmend eigene Standards, wodurch es für ausländische Firmen schwerer wird, ihre Produkte auf den chinesischen Markt zu bringen. Waren Ende der 1990er-Jahre fast 70 Prozent der in China eingeführten Standards aus internationalen Organisationen übernommen, so lag der Anteil 2017 bei nur noch 21 Prozent. Die EU will daher bei Normierungsthemen jetzt genauer hinschauen.
KMU könnten ins Hintertreffen geraten
Mit ihrer neuen Normungsstrategie will die Europäische Kommission nicht nur die europäische Wirtschaft stützen, sondern auch politische Werte wie Nachhaltigkeit und Demokratie durchsetzen. Sie will künftig den Normungsbedarf besser voraussehen, stärker priorisieren und entsprechend umsetzen. Dazu will die Kommission ein europäisches Forum einrichten, das entsprechende Impulse an die Normungsorganisationen gibt. Im Rahmen des Forums sollen der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten bei Normungsprozessen intensiviert und dadurch die europäische Führungsrolle gestärkt werden. Die Kommission plant zudem, den Normungsorganisationen konkrete Aufgaben zu erteilen, die von den nationalen Delegierten verbindlich zu bearbeiten sind.
Zwar betont die Kommission, die maßgebliche Rolle von KMU bei der Entwicklung und Festlegung von Normen weiterhin aufrechterhalten zu wollen. Dennoch bereitet der EU-Vorstoß mittelständischen Unternehmen zu Recht Sorgen: Der Grundsatz der Unabhängigkeit der Wirtschaft könnte damit aufgeweicht werden. Wird der Normungsprozess zum Politikum, droht das die Entwicklung neuer und wichtiger Normen zu verzögern. Gerade im Wettbewerb mit Wirtschaftsmächten wie China könnte dies europäischen Unternehmen zum Nachteil werden.
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