Die fünf Wirtschaftsweisen, genauer gesagt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, kritisieren, dass die Produktions- und Dienstleistungskapazitäten seit Jahren immer langsamer wachsen. Ein Grund: Der Fokus auf Kredite bei Unternehmensfinanzierungen. Warum das für Probleme sorgt und wie sie zu lösen wären.
Alljährlich im November legen die fünf Wirtschaftsweisen ihr Gutachten zum Zustand der deutschen Wirtschaft vor und geben der Bundesregierung Handlungsempfehlungen. Mit Blick auf die Wachstumsschwäche Deutschlands im internationalen Vergleich kritisieren die Ökonomen seit vielen Jahren das viel zu schwache Potenzialwachstum in Deutschland. Dass die Produktionskapazität – und damit das Wachstumspotenzial – in Deutschland von Jahr zu Jahr langsamer wächst, halten die Wirtschaftsweisen vor allem für ein Versäumnis der Politik. Allerdings machen sie auch die Finanzierungskultur in Deutschland maßgeblich dafür verantwortlich.
Die Diagnose der fünf Wirtschaftsweisen ist zwar nicht ganz überraschend, dennoch nicht minder erschütternd. Die Ökonomen betonen, dass die deutsche Wirtschaft deutlich weniger dynamisch wächst als bei unseren europäischen Nachbarn. Das habe dazu geführt, dass es hierzulande während der Coronakrise 2020 zwar keinen scharfen Konjunktureinbruch gegeben habe. Andererseits läge das Wachstum in Deutschland in den Jahren seit 2021 und bis heute deutlich unter dem Durchschnitt der Euro-Länder (siehe Grafik).

Quellen: Eurostat, Statistisches Bundesamt, Sachverständigenrat Jahresgutachten 2023, eigene Darstellung Quirin Privatbank AG
Sachverständigenrat: „Deutliche Wachstumshemmnisse für die kommenden Jahrzehnte“
Einen wesentlichen Grund für die schwache deutsche Wachstumsdynamik sieht der Sachverständigenrat in der Vernachlässigung des Wachstumspotenzials. Zitat: „Allerdings deutet die […] Langfristprojektion des Produktionspotenzials, unabhängig von der aktuellen Konjunkturschwäche, auf deutliche Wachstumshemmnisse für die kommenden Jahrzehnte hin. Diese Hemmnisse zeichnen sich bereits seit vielen Jahren ab und wurden bisher nicht ausreichend adressiert.“ Anders gesagt: Die Wachstumshemmnisse in Deutschland sind weithin bekannt, nur hat die Politik deren Beseitigung nie richtig in Angriff genommen. Wo also liegt das Problem?
Zunächst eine begriffliche Einordnung: Unter dem Wachstumspotenzial verstehen die Ökonomen die noch unausgelasteten Produktionskapazitäten bzw. die Kapazitäten der Dienstleister, die bei einem Anstieg der Nachfrage noch aktiviert werden können. Das Potenzialwachstum wiederum beschreibt die Entwicklung der vorhandenen potenziellen Kapazitäten. Also der Kapazitäten, die Unternehmen aktivieren können, indem sie alle Produktionsanlagen rund um die Uhr laufen lassen und die Mitarbeiter und Dienstleister maximal auslasten. Dieses Potenzial wächst, wenn Produktionsanlagen erweitert, neues Personal eingestellt oder beispielsweise durch Innovationen die Produktivität erhöht wird.
Die Kritik der Wirtschaftsweisen lautet, dass genau das, im Unterschied zu früheren Jahren, nicht mehr passiert: Anstatt zuzunehmen, ist das Potenzialwachstum seit den 1970er-Jahren bis zum Ende des vergangenen Jahrzehnts von 3,0 Prozent auf weniger als ein Prozent Wachstum pro Jahr gefallen. Für die kommenden Jahre prognostizieren die Wirtschaftsweisen nur noch ein Potenzialwachstum von durchschnittlich 0,4 Prozent. Damit wird es für die Unternehmen immer schwieriger, von einer dynamischen Aufwärtsbewegung der Konjunktur zu profitieren. Und dafür machen die Wirtschaftsweisen verschiedene Wachstumshemmnisse verantwortlich.
Wirtschaftsweise: „Deutschland droht eine Alterung seiner industriellen Basis“
„Erstens ist absehbar, dass durch die demografische Alterung der Anteil der 20- bis 64-Jährigen an der Gesamtbevölkerung sinken wird und das inländische Arbeitsvolumen zurückgeht“, heißt es im aktuellen Jahresgutachten. Mit anderen Worten: Weil es an Arbeitskräften mangelt, wird die Alterung der Erwerbsbevölkerung zum Wachstumshemmnis. Hinzu komme ein rückläufiges Produktivitätswachstum, heißt es weiter, außerdem seien „das Wachstum des Kapitalstocks, aber auch der Modernitätsgrad des Kapitalstocks, seit Jahrzehnten rückläufig.“ Das heißt, der Gesamtbestand an Produktionsanlagen in Deutschland – quasi das Sachkapital der Volkswirtschaft – sinkt und ist außerdem zunehmend veraltet. Die Wirtschaftsweisen kommen zu dem Schluss: „Deutschland droht eine Alterung nicht nur seiner Bevölkerung, sondern auch seiner industriellen Basis.“ Damit stellt sich die Frage, was die Politik tun kann, um für mehr Potenzialwachstum zu sorgen.

Quellen: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), OECD, Statistische Bundesamt, Sachverständigenrat Jahresgutachten 2023, eigene Darstellung Quirin Privatbank AG
Zu den Empfehlungen des Sachverständigenrats gehört neben vereinfachter Zuwanderung und mehr Erwerbsanreizen zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels insbesondere der Ausbau und die Modernisierung des Kapitalstocks.
Ich sehe das ähnlich. Die deutsche Wirtschaft lahmt aus meiner Sicht vor allem, weil die überbordende EU-Bürokratie selbst kleine und mittlere Unternehmen in aller Härte trifft – siehe Lieferkettengesetz – und es darüber hinaus auch an einer verbreiteten Börsenkultur mangelt, die den Unternehmen auch Finanzierungsalternativen bietet. Wir brauchen einen Mindset-Wechsel und eine deutliche Entlastung aus Brüssel.
So empfehlen die Wirtschaftsweisen dafür nicht nur die steuerliche Förderung von Investitionen und Forschungsprojekten sowie Verwaltungsreformen und Bürokratieabbau. Sondern an erster Stelle fordert der Sachverständigenrat die Regierung auf, privates und staatliches Wagniskapital gezielt für die Wachstumsphase von Start-ups zu mobilisieren.
Unsere Finanzierungskultur erweist sich als Wachstumsbremse
Und das macht Sinn, denn: Start-ups sind in den Wachstumsfeldern der Zukunft aktiv. Gibt es in einer Volkswirtschaft zu wenige erfolgreich Start-ups, kann die heimische Wirtschaft Zukunftsmärkte nicht mehr bedienen, geschweige denn zum Marktführer in einem Segment aufsteigen. Ein wesentlicher Grund dafür, dass es in Deutschland an Start-ups mangelt, sind den Experten zufolge unzureichende Finanzierungsmöglichkeiten für junge Unternehmen.
Das Problem: In Deutschland dominiert – vor allem im Mittelstand – traditionell die Fremdkapitalfinanzierung, vor allem über Bankkredite. Die Eigenkapitalfinanzierung, etwa durch die Ausgabe von Aktien oder Geldeinlagen der Gesellschafter, ist im Vergleich zum Finanzierungsvolumen mit Fremdkapital die absolute Ausnahme. Die folgende Grafik zeigt die Größenverhältnisse:

Quellen: EZB, OECD, Sachverständigenrat Jahresgutachten 2023, eigene Darstellung Quirin Privatbank
Über den Kapitalmarktblog:
Hier schreiben die Kapitalmarktexperten der Quirin Privatbank über die deutsche Wirtschaft und alles, was den heimischen Mittelstand bewegt. Das erfahrene Team der Quirin Privatbank hat die Entwicklungen rund um die Mittelstandsfinanzierung immer im Blick und zeigt auf, welche alternativen Finanzierungsformen für KMU interessant sind.