Ob Squeeze-out, Umwandlung, Delisting oder einer Übernahme einer Aktiengesellschaft: Die bestehenden Aktionäre erhalten eine gesetzlich geregelte Ausgleichszahlung. Zur Berechnung dient die letzten Börsenkurse der Aktie. Aber ist das sinnvoll? Ein Gastbeitrag von Ulrich Reers.
Im Zusammenhang mit Strukturmaßnahmen bei der Aktiengesellschaft sieht das Gesetz häufig angemessene Kompensations- bzw. Abfindungsleistungen an Aktionäre vor: Bei einem Squeeze-out, bei Umwandlungsvorgängen oder beim Abschluss von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen. Seit längerem wird diskutiert, welche Bedeutung der Börsenkurs für die Ermittlung der Angemessenheit dieser Kompensationsleistungen haben sollte. Neue Regelungen im Aktiengesetz, die im Dezember 2023 in Kraft getreten sind, sowie eine Entscheidung des BGH vom 21. Februar 2023 haben dieser Diskussion neue Impulse gegeben.
Zum Hintergrund: Börsenkurse als Maßstab
Das Gesetz sieht bei gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen, die in die Struktur einer AG eingreifen und dadurch die Rechtsposition eines Aktionärs verändern können, Abfindungs- oder Ausgleichszahlungen an die jeweils berechtigten Aktionäre vor. Teilweise stellt das Gesetz hinsichtlich der Höhe dieser Zahlungen ausschließlich auf Börsenkurse ab. Dies gilt z.B. grundsätzlich bei Übernahmeangeboten nach dem WpÜG oder Delisting-Angeboten nach § 39 BörsG. Größtenteils wird jedoch auf das Kriterium der Angemessenheit einer solchen Leistung abgestellt, wie beim Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages (§§ 304, 305 AktG), beim Squeeze-out (§ 327a AktG) oder bei Maßnahmen nach dem Umwandlungsgesetz (z.B. für die Verschmelzung, § 29 UmwG, oder den Formwechsel, § 207 UmwG). Vergleichbares galt für die Ermittlung der Angemessenheit des Ausgabebetrages der neuen Aktien im Rahmen einer Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss (§ 255 AktG a.F.).
Während der Börsenkurs ein leicht zu bestimmbarer Wert ist, lässt das Gesetz offen, nach welcher Methode die angemessene Höhe einer Abfindungs- oder Ausgleichszahlung zu ermitteln ist, so dass der Diskurs weitgehend von der Rechtsprechung bestimmt wurde.
Seit der DAT/Altana-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1999 hat sich der Grundsatz festgesetzt: Die Angemessenheit muss (wie zuvor auch) zunächst auf Basis des „vollen“ Werts des Unternehmens ermittelt werden, der in der Regel dem Ertragswert des Unternehmens entspricht. Allerdings müsse vor dem Hintergrund der Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs. 1 GG jeder Aktionär zumindest das erhalten, was er bekäme, wenn er in einer freien Entscheidung seine Aktien über die Börse veräußert hätte. Daher dürfe die Entschädigung keinesfalls den Börsenkurs unterschreiten, auch wenn dieser über dem Ertragswert liegt.
Die Rechtsprechung hat damit erstmals den Börsenkurs als ein taugliches Kriterium eingeführt. Allerdings hat der BGH auf Basis dieser Rechtsprechung de facto ein Meistbegünstigungsprinzip zugunsten der Aktionäre eingeführt. Sie erhielten ihre Abfindung also stets auf Basis des höheren Wertes – entweder des Unternehmenswertes oder des Börsenwertes.
Wie bereits teilweise in der Literatur seit längerem gefordert, stärkt die neuere Rechtsprechung die Rolle des Börsenkurses bei der Ermittlung der Angemessenheit.
Die aktuelle Rechtsprechung
Der Beschluss des BGH vom 21. Februar 2023 betraf ein Spruchverfahren zur Überprüfung der Angemessenheit einer Abfindung im Zusammenhang mit einem Beherrschungsvertrag. Hier hat der BGH klargestellt, dass die Angemessenheit ausschließlich anhand des Börsenwertes bestimmt werden kann. Es gebe keinen Vorrang einer Bewertungsmethode, selbst wenn sie als Bewertungsstandards angesehen würden. Insofern sei eine Schätzung des Unternehmenswertes auf Basis der Börsenkurse gleichberechtigt mit anderen Methoden. Dies soll nur dann nicht gelten, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Börsenkurs nicht aussagekräftig ist und daher nicht den wahren Verkehrswert zeigt, d.h. bei einer besonderen Marktenge, wenn es Anzeichen für eine Marktmanipulation oder sonstige nicht erklärbare Kursbewegungen gibt oder wenn ein Transparenzdefizit vorliegt.
Bereits im Jahr 2022 hatte zudem das OLG Düsseldorf im Rahmen der Überprüfung der Abfindung in einem Squeeze-out entschieden, dass die grundsätzliche Gleichwertigkeit einer Unternehmensbewertung nach Börsenkurs und Ertragswert auch für Unternehmen gelte, deren Aktien lediglich im Freiverkehr gehandelt werden, solange in dem konkreten Segment ein dem regulierten Markt vergleichbares Informationsregime herrscht (Beschluss vom 28. November 2022).
Bei einer gerichtlichen Überprüfung der Angemessenheit steht es aber nach wie vor im Ermessen des Gerichts, die Bewertungsmethode frei zu wählen. Wenn also das Gericht der Überzeugung ist, der Börsenkurs sei im Einzelfall nicht aussagekräftig, kann das Gericht trotzdem ein Bewertungsgutachten einholen, so dass es dann doch auf eine Unternehmensbewertung ankommt. Somit ist es nach wie vor ratsam, in diesen Fällen bereits im Vorfeld eine Unternehmensbewertung vorzunehmen, um bei der anschließenden gerichtlichen Prüfung keine Überraschung zu erleben, bzw. dem Gericht ein weiteres Argument an die Hand zu geben, um die Angemessenheit zu bestätigen.
Das Zukunftsfinanzierungsgesetz: Vorsicht, Börsenkurse!
Nur eine ausdrückliche gesetzliche Regelung könnte den Vorrang der Börsenkurse unterstreichen. Ein Beispiel ist der neue § 255 AktG in der Fassung des Zukunftsfinanzierungsgesetzes. Dieser sieht vor, dass bei einer Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss die Angemessenheit des Ausgabebetrags für die auszugebenden Aktien bei börsennotierten Gesellschaften allein anhand des Börsenkurses ermittelt werden kann. Das Gesetz definiert dabei in § 255 (3) AktG abschließend drei Fälle, wann dem Börsenkurs nicht zu trauen ist: Wenn (1) der Emittent die Veröffentlichung einer Insiderinformation unterlässt bzw. eine falsche Insiderinformation veröffentlicht, (2) eine Marktmanipulation vorliegt, oder (3) ein zu geringer Handel stattgefunden hat und mehrere festgestellte Kurse mehr als fünf Prozent voneinander abweichen.
Weiterer Reformbedarf?
Rechtssicherheit diesbezüglich könnte nur eine Gesetzesänderung bringen, die den Börsenkursen auch gesetzlich zu einer größeren, in bestimmten Fällen vielleicht sogar exklusiven Bedeutung verhelfen. Es wäre daher für die rechtsichere Durchführung bestimmter Maßnahmen hilfreich, gesetzlich auf den unbestimmten Rechtsbegriff „angemessen“ zu verzichten und ausdrücklich auf den Börsenkurs abzustellen – wie bei der Neufassung des § 255 AktG geschehen.
Dabei sollte der Gesetzgeber berücksichtigen, welche Qualität der Eingriff in die Rechtsposition des betroffenen Aktionärs hat. Die schwersten Eingriffe in die Dispositionsfreiheit eines Aktionärs sind der Squeeze-out und der Ergebnisabführungsvertrag, da es sich hierbei um die zwangsweise (im Falle der Ergebnisabführung wirtschaftliche) Enteignung des Aktionärs handelt.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch Konstellationen, in denen der Eingriff in die Stellung des Aktionärs so gering erscheint, so dass bereits fraglich ist, warum überhaupt eine Abfindung angeboten werden muss. Gesetzliche Ausnahmen finden sich vor diesem Hintergrund bereits im Umwandlungsgesetz für den Fall einer Verschmelzung einer börsennotierten Gesellschaft auf eine andere börsennotierte Gesellschaft (§ 29 UmwG) oder im Fall eines Formwechsels von einer Aktiengesellschaft in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) und umgekehrt (§ 250 AktG). In diesen Fällen muss die Gesellschaft ihren Aktionären kein Abfindungsangebot unterbreiten, so dass sich die Frage nach der Angemessenheit der Abfindungshöhe nicht stellt.
Gesetzgeber verpasst Chance zur praxisnahen Gestaltung
Leider wurde bei der Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie (EU) 2017/1132 in das deutsche Recht mit Wirkung ab dem 1. März 2023 eine Chance verpasst, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Dies gilt insbesondere für den Fall eines grenzüberschreitenden Formwechsels in oder eine Verschmelzung auf eine Gesellschaft vergleichbarer Rechtsform eines anderen EU-Mitgliedsstaates.
Art. 86i Abs. 1 der Richtlinie gab den Mitgliedsstaaten vor sicherzustellen, dass Gesellschafter im Fall eines grenzüberschreitenden Formwechsels ihre Anteile gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung veräußern können. Für einen grenzüberschreitenden Formwechsel einer börsennotierten Gesellschaft unter Beibehaltung der Börsennotierung oder die Verschmelzung einer deutschen börsennotierten Gesellschaft auf eine andere europäische börsennotierte Gesellschaft leuchtet dies nicht unmittelbar ein. Denn in diesem Fall besteht für den Aktionär auch nach dem Rechtsformwechsel die Gelegenheit, seine Beteiligung über den Markt zu veräußern. Mithin besteht in dieser Konstellation ein vergleichbares Schutzbedürfnis des Aktionärs wie im Fall des oben erwähnten § 29 UmwG bei einer Verschmelzung zweier börsennotierter Unternehmen, wo gerade kein Abfindungsangebot zu unterbreiten ist.
Auch § 250 UmwG zeigt, dass der Aktionär gewisse Änderungen seiner Rechtsstellung hinnehmen muss. Denn in einer KGaA ist die Position der Aktionäre deutlich schwächer als in einer Aktiengesellschaft. Wenn nun aber der Wechsel von einer Aktiengesellschaft in eine KGaA nach deutschem Recht kein Abfindungsangebot verlangt, sollte dies bei einem innereuropäischen Formwechsel in die entsprechende Rechtsform erst recht gelten. Denn hier wird über die Gesellschaftsrechtsrichtlinie und die Aktionärsrechterichtlinie bereits ein harmonisiertes Schutzniveau auf europäischer Ebene erreicht. Bei börsennotierten Gesellschaften ist der Eingriff in die Rechtsposition in den genannten Fällen ohnehin stets gering, da der Aktionär in jedem Fall die Möglichkeit hat, seine Beteiligung über die Börse zu veräußern.
Angemessene Abfindung ohne Berücksichtigung der Börsenkurse?
Auch wenn die Richtlinie vom Grundsatz trotz der genannten Gründe ein Abfindungsangebot erforderlich gemacht hat, hätte die Richtlinie in Art. 86f Abs. 2 aber ausdrücklich erlaubt, dass die Abfindung auf Basis eines etwaigen Marktpreises als Alternative zu dem „nach allgemein anerkannten Bewertungsmethoden bestimmten Wert der Gesellschaft“ ermittelt wird. Von dieser Möglichkeit hat der Gesetzgeber leider keinen Gebrauch gemacht, indem er wie beim Squeeze-out bzw. dem Gewinnabführungsvertrag auf die Angemessenheit der Barabfindung abgestellt hat. Dabei erscheint ein grenzüberschreitender Formwechsel einer börsennotierten Gesellschaft von der Eingriffsintensität näher einem Übernahmeangebot als einem Squeeze-out, so dass auch in diesem Fall die Ermittlung der Abfindungshöhe wie im Fall der Mindestgegenleistung bei einem Übernahmeangebot ausschließlich anhand des Börsenkurses vorzunehmen ist.
Es besteht nach wie vor Bedarf, ein besser austariertes System zu schaffen, das bei dem Ob und der Höhe einer Kompensationsleistung an außenstehende Aktionäre die jeweilige Eingriffsintensität besser berücksichtigt. Hier sollte dem Börsenkurs als „Marktwert“ eines Unternehmens insgesamt größeres Vertrauen entgegengebracht werden.
Denn in einer freien Marktwirtschaft sollte bei einem funktionierenden Markt und Einhaltung der entsprechenden Regeln der Marktwert eines Wirtschaftsgutes stets auch seinem „wahrem Wert“ entsprechen. Bei hinreichender Transparenz und Liquidität sollte die Börsenkurse auch grundsätzlich aussagekräftig sein. Insofern ist es erfreulich, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zur Änderung des § 255 AktG ausdrücklich festgehalten hat, dass vorbehaltlich der dort genannten typisierten Fälle (Unterlassene Transparenz, Marktmanipulation und zu geringe Liquidität) der Einwand ausgeschlossen sei, der „wahre Wert“ des Unternehmens spiegele sich nicht im Börsenkurs wider.
Unklar ist, ob der Gesetzgeber damit einen allgemeinen Wink geben wollte, dass der Börsenkurs bei der Bestimmung einer Kompensationshöhe insgesamt eine größere Bedeutung bekommen sollte. Das wäre für die Zukunft zu begrüßen.
Ulrich Reers ist Partner im Bereich Aktien- und Kapitalmarktrecht bei der Kanzlei Gowling WLG in Frankfurt/Main. Er berät Emittenten und Banken bei Kapitalmarkttransaktionen sowie laufend börsennotierte Unternehmen in allen gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Fragen.
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